«For the many – not the few»
Grossbritannien ist reif für politischen Wandel. Doch während in Kontinentaleuropa vor allem rechte Kräfte einen Ausweg propagieren, wird das Vereinigte Königreich von einer linken Bewegung aufgerollt. Die gute alte Labour Party will mit einem sozialistischen Programm an die Regierung – und ihre Chancen stehen gut.
Philip Hammond liebt selbstfahrende Autos. Er würde gerne mit solch einem führerlosen Etwas umherkutschieren, erklärte er kürzlich. Hammond ist derzeit Grossbritanniens Schatzkanzler – ein Mann mit wenig Fortune und noch weniger Fachkompetenz. Mit seinem Bekenntnis zu «driverless cars» hat er nicht nur den Nagel auf den Kopf getroffen, sondern auch seinen Kritikern Futter gegeben. Denn besser kann man die Verfassung der regierenden Tories nicht charakterisieren: Gleich einem führerlosen Schiff treibt die Partei durch trübes Wasser, fabriziert täglich neue Crashs und zerlegt sich in Flügelkämpfen. Theresa May weist weder einen Weg noch ein Ziel – und sie ist angezählt. In Westminster wird gemunkelt, dass die Konservativen die Legislaturperiode nicht durchstehen werden.
Dabei braucht das Land gerade jetzt richtungsweisende und wohlbedachte politische Entscheidungen. Das Versagen einer seit über dreissig Jahren anhaltenden Privatisierung ehemals staatlicher Infrastruktur, die schwere Wirtschaftskrise und ein zehnjähriger Austeritätskurs stellen Grossbritannien vor immense soziale und ökonomische Probleme. Armut und Arbeitslosigkeit wachsen rasant, Schulen und Universitäten sind heillos unterfinanziert, das nationale Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps. In den Ballungszentren explodieren Wohnungsmieten und Immobilienpreise, gleichzeitig stagnieren die Einkommen seit Jahren. Immer mehr Menschen – auch Berufstätige – sind auf Lebensmittelspenden wohltätiger Organisationen angewiesen. Während der Staat die Sozialleistungen auf ein Minimum zusammengestrichen hat, hält er sich an immer neuen Einnahmequellen schadlos, an Steuern oder Gebühren, die vor allem zulasten der weniger Vermögenden gehen und den eh schon Armen noch mehr Kosten aufbürden.
Armut und Arbeitslosigkeit wachsen rasant, Schulen und Universitäten sind unterfinanziert, das nationale Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps.
Ausgerechnet vor diesem desaströsen Hintergrund muss das Vereinigte Königreich einen existenziellen Schritt in die Zukunft meistern: den Abschied von der Europäischen Union. Die Verhandlungen laufen zäh und könnten das Aus für Theresa May bedeuten. Das Brexit-Referendum hatte bereits unmittelbar nach der Entscheidung im Juni 2016 die politische Landschaft aufgemischt. Premierminister David Cameron trat zurück, Parteivorsitzende anderer Parteien warfen das Handtuch.
Nur einen hat das Desaster kometenhaft nach vorn katapultiert: Jeremy Corbyn, den entschiedenen linken Labourchef. Nach einer Reihe innerparteilicher Kämpfe bis hin zu Putschversuchen durch den rechten Parteiflügel, steht er seit über einem Jahr mit relativ sicherer Mehrheit an der Spitze der britischen Sozialdemokraten. Und seitdem haben er und seine Unterstützer ein regelrechtes «linkes Fieber» auf der Insel entfacht. Auf öffentlichen Veranstaltungen, die oft von Tausenden besucht werden, propagiert Corbyn eine sozialistische Regierung, «For the many – not the few» lautet das griffige Motto.
Dazu gehört zu allererst die Wiederherstellung der Arbeiter- und Gewerkschaftsrechte, die von Margret Thatcher und dann noch einmal mehr von David Cameron und Theresa May im neoliberalen Sinne zusammengestrichen worden waren. Diese Forderungen sind Wasser auf die Mühlen der Gewerkschaften, die traditionell in Grossbritannien oft als komplette Organisationen Teil von Labour sind. Zehn Pfund pro Stunde will Corbyn im Falle eines Wahlsieges als Mindestlohn gesetzlich festschreiben, unbezahlte Praktika sollen ebenso abgeschafft werden wie die bereits seit sieben Jahren bestehende Deckelung der Gehälter im öffentlichen Dienst.
Sämtliche Verträge, bei denen Privatunternehmen von der öffentlichen Versorgung mit Wasser, Strom, Verkehr und Gesundheitseinrichtungen profitieren, will Labour aufkündigen und die Einrichtungen wieder unter staatliche oder kommunale Kontrolle stellen. Die privatisierte British Rail soll nach und nach verstaatlicht, der öffentliche Dienst insgesamt wieder deutlich ausgebaut werden. Auch die erst vor vier Jahren teilprivatisierte British Mail soll nach Ansicht von Labour wieder als Staatsbetrieb geführt werden.
«Manifesto» heisst das Wahlprogramm, mit dem die Partei die Rückkehr zum Sozialstaat durchsetzen möchte. Damit legte sie bei den Unterhauswahlen im Juni dieses Jahres auf einen Schlag 9,5 Prozentpunkte zu und verfehlte nur knapp den Sieg über die Konservativen. Das Programm sieht vor, in den nächsten zehn Jahren 250 Milliarden Pfund in Infrastrukturprogramme zu investieren und neue Technologien zu fördern. Im Vordergrund stehen dabei vor allem Kommunen, die zu den Verlierern der Globalisierung gehören, insgesamt soll aber das gesamte Land in den Genuss der Förderungen kommen. Mit weiteren 200 Milliarden Pfund sollen private Unternehmen, die im öffentlichen Auftrag arbeiten, in Grossbritannien Steuern zahlen und sowohl Gewerkschafts- als auch Umweltrechte strikt einhalten, unterstützt werden. Mehreinnahmen im Bereich der Unternehmens- und Einkommenssteuer, bei der jedoch nur die oberen fünf Prozent der Höchstverdiener zur Kasse gebeten werden, sollen das Programm finanzieren.
Wie eine Bombe schlug in der City of London Labours Ankündigung ein, einen öffentlichen Bankensektor aufzubauen.
Wie eine Bombe schlug in der City of London Labours Ankündigung ein, einen öffentlichen Bankensektor aufzubauen. Grundlage dafür bildet die Royal Bank of Scotland, die sich seit der 45 Milliarden Pfund teuren «Rettung» im Jahr 2008 zu 84 Prozent in staatlichem Besitz befindet. Sie soll in ihrer jetzigen Form aufgelöst und in kommunale Kooperativen umgewandelt werden, die dann sowohl die Bürger als auch kleine Firmen mit günstigen Krediten versorgen können. Das ist nicht nur ein cleverer, sondern auch ein nachhaltiger Schachzug. Banken in öffentlichem Besitz, die ihre Gewinne wieder dem Gemeinwesen zukommen lassen, sind nämlich systemneutral. Sie saugen die Gewinne nicht ab, wie die privaten Banken, sondern rezyklieren sie. Insgesamt will Labour das Genossenschaftswesen fördern und auch dadurch das Land von Grund auf erneuern.
Dieses radikale Programm macht die Partei vor allem für junge Leute attraktiv. Gezielt werden Methoden der Graswurzelbewegung angewandt, um die Idee einer Politik «für die Vielen» unter Grossbritanniens Jugend publik zu machen. Sekundiert wird die Partei von «People᾽s Momentum», einer Organisation, die sich für die Unterstützung Jeremy Corbyns und seiner politischen Ziele einsetzt. Sie leistet vor allem in den vielfältigen zivilgesellschaftlichen Initiativen Basisarbeit für Labours linken Kurs. Ein effizientes Netz in den sozialen Medien unterstützt die Kampagnen. In den letzten zwei Jahren – also seit der Ära Corbyn – konnte die Partei die Zahl ihrer Mitglieder mehr als verdoppeln, von unter 300 Tausend auf heute 600 Tausend. Und es werden täglich mehr.
Doch was viele in ihrer Euphorie übersehen: Die Parteirechten haben sowohl im Unterhaus als auch in den von der Partei dominierten Stadtverwaltungen reichlich Abgeordnete, die alles andere als ein sozialistisches Grossbritannien wollen. Die Flügel- und Machtkämpfe innerhalb Labour sind noch lange nicht ausgestanden.
Weiterer und wesentlich massiverer Widerstand gegen Labours linken Kurs droht von der Grossindustrie, dem Banken- und Finanzsektor sowie dem gesamten Establishment. Kürzlich warnte Morgan Stanley lautstark, Corbyn sei eine grössere Gefahr für die Wirtschaft als ein harter Brexit. Auch die Tories greifen zu immer perfideren Methoden, um den Vormarsch der Linken zu stoppen. Jacob Rees-Mogg, Multimillionär, Tory-Abgeordneter und Kandidat für das Amt des Parteivorsitzenden, traf sich Ende November mit Stephen Bannon in London. Ausgerechnet bei Donald Trumps rechtsradikalem Ex-Berater suchte Rees-Mogg Tipps und Unterstützung für den Aufbau einer konservativen Bewegung in Grossbritannien. So viel ist sicher: Kampflos wird das Land nicht in die Hände der Linken gelangen.
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