Nichts für Schwächlinge

Ein Burnout ist harte Arbeit – für die Firma, für das Ego und gegen sich selber. Unsere Autorin beschreibt die zwölf Phasen auf dem Weg in einen lähmenden Zustand, unter dem allein in der Schweiz 300’000 leiden.

Burnout ist keine Modeerscheinung und war schon vor achtzig Jahren eine beliebte Krankheit, allerdings unter anderem Namen. Der Psychiater Pierre Janet schrieb schon 1932: «Jedermann war neurasthenisch und war entzückt, wenn man die Ehre hatte, es zu sein.» Die Rede ist vom epidemisch auftretenden nervösen Schwächezustand, der u. a. mit Müdigkeit, Schlafstörung, Impotenz, Depression einherging. Achtzig Jahre später nennen wir den Hype «Burnout» und feiern ihn als Auszeichnung der besonders Fleissigen.
Die Zahlen und Fakten sind keine News mehr. In der Schweiz sind jährlich 300'000 Menschen betroffen. Eine Studie schätzt die Arzt- und Produktionsausfallkosten aufgrund von Stressleiden auf etwas mehr als 4 Milliarden Schweizer Franken, was etwa 1,2 Prozent des BIP entspricht – ein volkswirtschaftliches Desaster also. Der Begriff sei schwammig, wissen die Informierten. Das liegt daran, dass Burnout im Diagnosemanual ICD-10 der WHO nicht als Krankheit aufgeführt wird. Krankenkassen bezahlen trotzdem, vorausgesetzt, es handelt sich um eine Erschöpfungsdepression oder einen anderen desolaten Zustand, der sich mit einer ICD-10-Formel beschreiben lässt.

Betriebsblindheit
Wenn es um Burnout geht, kann man Menschen in zwei Gruppen teilen. In die, die es erlebt haben, und die, die es besser wissen. Als mich mein damaliger Chef darüber aufklärte, dass meine Arbeitsbedingungen alle Voraussetzungen erfüllen, um ein Burnout zu begünstigen, konnte ich ihn beruhigen: «Ich weiss genau, wann ich an meine Grenzen stosse. Ich kriege nämlich Schuppen, muss viel weinen und meine Haut gibt Signale.» Zu diesem Zeitpunkt hatte ich Schuppenflechten, war so weinerlich wie noch nie und meine Haut war von weissen Kringeln befallen. Trotzdem: Dass ich wenige Wochen später wegen Burnouts krankgeschrieben sein würde, lag ausserhalb meines Vorstellungsvermögens.
Diese Haltung sei ganz typisch, sagt die Psychotherapeutin Helen Biedermann Vuille, die mich damals behandelte. «Meistens sind die PatientInnen ganz erstaunt, dass sie überhaupt Hilfe von einer Fachperson benötigen».
Ausbrennen steht im engen Zusammenhang mit der Arbeitswelt, da diese grossen Einfluss darauf ausübt, wie wir uns selbst erleben. Vorwiegend betroffen sind darum Menschen, die sich stark mit ihrer Arbeit identifizieren, ein übersteigertes Verantwortungsgefühl haben und gleichzeitig hohe Ansprüche an sich selbst stellen. Beobachten kann man bei typischen Burnout-PatientInnen auch, dass sie sich trotz Müdigkeit zu noch mehr Leistungen treiben, besonders wenn sie zu wenig Wertschätzung erfahren.

Investition
Opfer von Burnout, Stress und anderen krank machenden Auswüchsen der Wettbewerbs- und Leistungsgesellschaft sind neben den Betroffenen auch deren Angehörige und Arbeitgeber, Krankenkassen und Versicherungen. Dass die Burnout-PatientInnen zuvor den im Nachhinein verteufelten Auswüchsen des Schneller-Besser-Mehr gefrönt haben, erwähnt kaum jemand. Die Betroffenen heizen den gesellschaftlichen Hochleistungsofen mit ihrem übermässigen Leistungsanspruch besonders stark an. Sie sind vor der Krise keineswegs hilfreich bei der Suche nach Lösungen. Im Gegenteil: Sie stellen das eigentliche Problem dar. Tatsächlich ereignet sich kein Burnout ohne langfristiges Investment. Es bedeutet, kontinuierlich auf einen Kollaps hinzuarbeiten, systematisch alle Signale zu ignorieren und sich zur Selbstausbeutung zu zwingen. Das ist harte Arbeit.

12-Phasen-Programm
Stellvertretend für die 300’000 habe ich die zwölf Stadien des Burnout-Zyklus nach Herbert Freudenberger durchlaufen .
Er zeigte als Erster auf, was es braucht, um schliesslich wie gelähmt im Bett zu liegen und sich in Trauer, Scham und Selbstzweifel zu ertränken.

«Am Anfang stehen der Zwang, sich zu beweisen (1), und ein verstärkter Einsatz (2).» Ich war eine Praktikantin, die von ihrer vorherigen Stelle so enttäuscht war, dass sie ihre verlorene Zeit nun aufholen musste. Ich hatte enorme Freude an meinen Aufgaben. Ich wollte nach den langen Jahren an der Uni endlich richtig arbeiten und zeigen, was in mir steckt.

«Die eigenen Bedürfnisse werden vernachlässigt (3). Sie werden einem grösseren Ziel untergeordnet (4).» Der exponierte Arbeitsplatz, die Arbeitszeiten, ständige Unterbrechungen, tausend Kleinigkeiten, mühsame Hierarchiestufen, die Zusammenarbeit mit Ämtern und die bei Bundesangestellten übliche diffuse Angst, etwas falsch zu machen, waren zermürbend. Aber so war es nun mal. Ich fühlte mich privilegiert, unter 60 Bewerbungen die Stelle erhalten zu haben. Mit meinem Badge konnte ich Freunde mit ins Bundeshausrestaurant nehmen. Meine Eltern waren stolz.

«Die Verdrängung der eigenen Bedürfnisse mündet in einer Umdeutung von Werten (5) und Verleugnung von auftretenden Problemen (6).» Meine Familie kontaktierte ich immer weniger, Feierabendbiere liess ich bleiben, für Sport hatte ich keine Zeit, für längere Mittagspausen fehlte mir der Mut, die Arbeit für den Verein verschob ich auf die Ferien. Aber es lohnte sich: Schliesslich war ich einst Realschülerin und nun kurz vor dem Aufstieg in den Olymp der Karrierefrauen.

«Die Betroffenen schlafen schlecht, obwohl sie müde sind, ‹schreien die Falschen an›; ihre Wahrnehmungsfähigkeit sinkt, sie ziehen sich zurück (7).» Gegen die schlaflosen Nächte nahm ich Medikamente. Um am Tag nicht schlapp zu machen, trank ich Energydrinks und Kaffee, obwohl mich beides zittrig machte. Wenn es gar nicht ging, nahm ich ritalinähnliche Pillen, die ich noch aus meiner Unizeit übrig hatte. Wenn mich FreundInnen treffen wollten, war ich genervt, weil ich ihnen meine kostbare Zeit schenken sollte. Ich war sauer auf meinen Partner, dessen Leben mir so unanstrengend erschien.

«Beobachtbare Verhaltensänderungen (8). Gefühle von Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit werden durch Alkohol oder anderen Konsum kompensiert.» Meinen bescheidenen Praktikumslohn verprasste ich bald für Caramelpopcorn, Lachsbrötchen, Entrecôtes, Wein, Bier, DVDs, Klamotten und Kosmetikprodukte. Mir war egal, ob es später noch reichen würde. Es war mir komplett völlig absolut piepegal.

«Verlust der eigenen Persönlichkeit/ Depersonalisation (9). Die Betroffenen verhalten sich kalt, distanziert, schwankend, unberührbar.» Mich mit anderen Leuten zu unterhalten, fand ich zunehmend anstrengend. Ich wusste nicht, worüber ich reden sollte. Ich fühlte mich wie auf unbeweglichen Gleisen, die ich nie wieder verlassen durfte. Ich stellte mir die Sinnfrage: Ist es das jetzt? Ist das mein Leben? Weil ich nicht mehr wusste, wie ich mein Leben leben wollte, verglich ich mich mit anderen. Dabei fühlte ich mich jedem und jeder unterlegen, gleichzeitig verachtete ich diese Leute aber.

«Innere Leere (10)» Zu dieser Zeit klopfte ich mir oft auf die Brust. Es fühlte sich an, als würde etwas fehlen. Ich konnte schlecht atmen und hörte mich oft seufzen. Etwas ganz Essenzielles fehlte – ich vermisste Gefühle. Ich wollte mir mit der Stecknadel in die Hand stechen, um wenigstens Schmerzen zu fühlen. Ich weinte oft ohne erkennbaren Grund. Im Tagebuch steht: «Ich fühle mich wie die Puppe eines ausgeflogenen Schmetterlings.» Meine Seele hatte sich verabschiedet.

«Depression (11)» Es war am letzten Wochenende meiner Ferien. Ich sass in der Bibliothek und wollte noch etwas für den ersten Arbeitstag fertig machen. Ich merkte, wie sich eine dunkle Welle undefinierbaren Übels hinter mir auftürmte. Ich konnte nicht länger in der Öffentlichkeit bleiben. Ich hatte noch Zeit, die beiden Worte «Psychiater» und «Biel» in die Suchleiste zu tippen und abzuschreiben, was der Computer ausspuckte. Bei der ersten Adresse waren die Türen verschlossen. Der «Psychiatrische Dienst der Stadt Biel» war jedoch offen. Obwohl ich nicht wusste, was ich da wollte, noch was deren Angebot war, trat ich erleichtert ein. Als die Frau am Schalter fragte, wie sie mir helfen könne, überforderte mich die Suche nach einer passenden Antwort zu sehr. Ich brach zusammen. Der darauffolgende Heulkrampf wiederholte sich im Folgenden mehrmals täglich – über Wochen.

«Die Patientin berichtet unter Weinkrämpfen: ‹total erschöpft und ausgelaugt› (...) ‹nicht mehr fähig sich zu entscheiden› (...) ‹will nur noch Ruhe› (...) ‹die Übersicht verloren» (...) ‹sagt, dass sie überhaupt nichts erreicht habe›(…) ‹empfindet alles als unglaublich anstrengend»

Während des Gesprächs fordert mich die Notfallpsychiaterin auf, meinen Arbeitgeber anzurufen und ihm die Situation zu erklären. Lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen. Als sie meinem Chef am Telefon erklärte, dass ich per sofort 100 Prozent krankgeschrieben sei, fühlte ich mich zu einem nichtsnutzigen Parasiten degradiert, dessen Existenzberechtigung just in diesem Moment erlosch. «Nicht einmal ein Praktikum kriegst du gebacken», sagte es in mir. «Dafür hast du einen Abschluss gemacht? Deine Eltern hätten dich besser gar nie bekommen. Du wirst für immer ein Nichts bleiben.» Aus den Notizen der Notfallpsychiaterin geht hervor:
«Aufmerksamkeit und Konzentration leicht eingeschränkt» (...) «Gedächtnis unauffällig» (...) «zum Teil gut abholbar» (...) «Denken formal geordnet» (...) «inhaltlich auf die aktuelle Lebenssituation fokussiert» (...) «deprimiert» (...) «Scham spürbar» (...) «Selbstwertproblematik» (...) «Entscheidungsunfähigkeit» (...) «wie gelähmt»
Diagnose: Anpassungsstörung. Das ist nicht unüblich für die erste Anamnese. Eine Anpassungsstörung ist am wenigsten stigmatisierend.

«Erschöpfung (12). Sie äussert sich im unbedingten Wunsch nach Dauerschlaf und in absoluter Antriebslosigkeit. In dieser Phase brechen soziale Kontakte ab, Beziehungen werden beendet und Arbeitsverhältnisse gekündigt.» Die Erschöpfungsdepression hielt sich. Ich wollte niemanden sehen, nichts tun, nur schlafen. Fünf Wochen verbrachte ich im Bett, auf dem Sofa und auf der Couch meiner Psychologin, selten nur an der frischen Luft. Einen Aufenthalt in der Tagespsychiatrie konnte ich abwenden. Meine feste Tagesstruktur bestand nun darin, aufzustehen, einkaufen zu gehen und etwas zu kochen. Das füllte den Tag aus. Manchmal war aber auch das zu viel.
Die Fähigkeit, sich zu entscheiden, ist während einer Depression stark eingeschränkt. Sollte ich am Morgen erst die Zähne putzen oder duschen? Oder sollte ich unter der Dusche die Zähne putzen? Diese Frage hat mich in einem Masse überfordert, dass ich mich vor Verzweiflung wieder ins Bett legte und einschlief. Die Anstrengung, täglich ein Menu zusammenzustellen, war angesichts der vielen Möglichkeiten schier unmenschlich. In den ersten Wochen stand ich häufig paralysiert vor dem Gemüseregal, bemüht darum, niemanden merken zu lassen, dass ich schon 50 Minuten um die frischen Lebensmitteln geschlichen war. Regelmässig sank ich halb angezogen vor dem Kleiderschrank zu Boden und heulte. Ich sah mir bei alledem zu und konnte nichts dagegen tun. Nichts schien zu helfen. Einzig der Gedanke, dass ich mir das Leben nehmen könnte, vermochte mir etwas Linderung zu bringen.

Follow up
Die Grenzen zwischen Anpassungsstörung, Burnout und Depression sind fliessend – eine Frage des Schweregrades. Burnout ist ein Prozess mit verschiedenen Phasen. Nicht alle müssen bis zum Schluss durchlaufen werden. Je schwerer ein Burnout, desto eher spricht man von Depression.
In ihrer Bieler Praxis erkennt Helen Biedermann Vuille schnell, was die psychischen Leiden ihrer PatientInnen sind. Viele werden vom Hausarzt zugewiesen, da sie nicht mehr schlafen können, die Kinder nerven, die Libido weg ist, über Rücken- und Kopfschmerzen oder Hautausschläge klagen. Im Erstgespräch fragt sie, wann sie sich zum letzten Mal entspannt gefühlt haben, wie es bei der Arbeit geht, wie die Beziehung läuft. Ein deutliches Merkmal sei auch, dass sich die PatientInnen trotz Ferien nicht erholen können. Wenn nötig entscheidet sie zusammen mit Psychiaterin oder Hausarzt, die Menschen für drei Wochen krank zu schreiben. Meistens bräuchten diese Menschen jedoch acht bis zwölf Wochen Auszeit. «Dagegen aber sträuben sie sich erst.» Frau Biedermann Vuille lächelt wissend: «ausnahmslos alle». Die Psychotherapeutin hat in ihrer Praxis die Erfahrung gemacht, dass es nichts bringt, die Menschen krankzuschreiben, ohne dass sie intensiv betreut werden. Eine Tagesstruktur sei ein wichtiger Aspekt, den sich Frauen eher geben könnten als Männer. Spezialisierte Burnout-Kliniken bieten diese Tagesstruktur. PatientInnen werden zudem aufgefordert, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Der Gang in eine Klinik fällt jedoch schwer. Einigen Männern hilft es dann zu wissen, dass sich auch andere Männer in der Klinik wegen Burnouts behandeln lassen. «Die gesellschaftliche Erscheinung, dass wir uns ausschliesslich über Leistung und Arbeit definieren», sagt die erfahrene Psychotherapeutin «ist für viele eine Falle.»
Ich habe mich inzwischen von meinem Burnout erholt und versuche nun, nicht mehr in diese Falle zu tappen. Im Übrigen verzichte ich neuerdings beim Smalltalk auf die Frage: «Und was machst du beruflich?» Mich interessiert jetzt anderes. Die Welt ist grösser als Arbeit.


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Mehr zum Thema finden Sie im Heft 135 Musse und Müssen