Wenn nur Härte wirkt
Die Strategie der Nulltoleranz ist sehr effizient in der Verbrechensbekämpfung. Sie wird nur nicht für alle gleich angewendet.
Auch wer New York City nicht mag, muss anerkennen, dass sie sich in 25 Jahren von einer hochgefährlichen, zugemüllten Stadt zur sichersten Metropole der USA gemausert hat. Das will zwar nicht viel heissen. Die Schweiz mit knapp derselben Bevölkerungszahl verzeichnet achtmal weniger Morde – 45 im Gegensatz zu 335 in New York. Aber der Wandel der Stadt ist erstaunlich.
Begonnen hat die Trendwende mit der 1982 veröffentlichten «Broken-Windows-Theorie» der US-Sozialforscher James Q. Wilson und George L. Kelling. Sie untersuchten den Zusammenhang zwischen urbanen Verwüstungen und Kriminalität und erklärten, ein zerbrochenes Fenster müsse schnell wieder repariert werden, um weitere Delinquenz zu verhindern. Ihre Studie befasste sich zwar nicht mit den Ursachen der Verlotterung, und sie gilt unter Soziologen auch als «unterkomplex». Aber sie entfaltete Wirkung.
Schwarzfahrer wurden bis zu fünf Tage in Polizeigewahrsam genommen. Das ist zwar keine Gefängnisstrafe, aber gefühlt vermutlich gleichwertig.
Daraus entwickelte sich die polizeiliche Nulltoleranz-Strategie, bei der jedes Vergehen konsequent geahndet und auch bei Regelverstössen unterhalb der Straftatengrenze eingeschritten wird, z. B. bei aggressivem Betteln oder Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit. Das Konzept wurde unter dem neuen republikanischen Bürgermeister Rudy Giuliani 1994 mit harten, öffentlichkeitswirksamen Massnahmen in den heruntergekommenen U-Bahnen eingeführt. Schwarzfahrer wurden bis zu fünf Tage in Polizeigewahrsam genommen. Das ist zwar juristisch keine Gefängnisstrafe, aber gefühlt vermutlich gleichwertig. Mit ständigen Kontrollen bekämpft wurden auch der illegale Waffenbesitz und der Drogenhandel. Die Absicht war, den Drogenhandel durch Verfolgung der Kleindealer von unten auszudünnen. Der sog. «beer and piss»-Erlass stellte das Betteln in öffentlichen Verkehrsmitteln und das Pinkeln im öffentlichen Raum unter Strafe. Und im Rahmen der «Operation Sound Trap» wurden überlaute Motorräder, Pkws mit dröhnender Musik etc. aus dem Verkehr gezogen.
Das Konzept erforderte z. T. schärfere Gesetze, schnellere Verfahren und deutlich mehr Polizeipersonal mit erweiterten Kompetenzen. Wer auch kleine Verstösse ahnden will, kann nicht lange fackeln.
Die Härte gegen aussen hatte für die Polizei auch Härte gegen innen zur Folge. Mit detaillierten Statistiken wurden die einzelnen Polizeibezirke einem Wettbewerb unterstellt. Die Chefs der Bezirke mussten ihre Leute besser kontrollieren und über Fälle in ihrem Verantwortungsbereich umfassend Auskunft geben können. An den wöchentlichen Meetings werden noch heute einzelne Bezirkschefs zufällig ausgewählt und vor den 150 Teilnehmern gegrillt. Wer die Details zu einzelnen Verbrechen nicht kennt, wird – ganz amerikanisch – versetzt oder gefeuert.
Die unzimperlichen Massnahmen waren nicht unumstritten, aber erfolgreich. Viele Stadtgebiete, in die sich die Polizei vorher nicht mehr wagte, wurden sicherer. Die Bewohner begannen, sich wieder für ihre Nachbarschaften zu interessieren. Und die Zahl der jährlichen Morde sank von 2000 auf nunmehr 335. Heute ist New York die sicherste Metropole der USA. Am anderen Ende der Statistik befindet sich Chicago, das zwar viel härtere Waffengesetze hat, sie aber nicht durchsetzt. Chicago als drittgrösste Stadt der USA mit 2,3 Mio. Einwohnern zählt 763 Morde im Jahr, mehr als die beiden grössten Städte New York (8,5 Mio.) und Los Angeles (3,9 Mio.) zusammen. (welt.de: Warum Chicago in Gewalt versinkt und New York lebt)
Das Beispiel New Yorks machte weltweit Schule. Viele Polizeiverantwortliche pilgerten an den Hudson River, fuhren mit auf Streife, liessen sich die Statistiken erklären und nahmen an den gefürchteten Rapporten teil. Aber wirklich durchsetzen konnte sich die harte Linie in Europa nicht. Beispielhaft dafür ist die Nulltoleranz-Strategie des Berliner Senats gegenüber Drogenkonsumenten im Görlitzer Park von 2015. Die Strategie wackelte schon am ersten Tag, als ein junger Mann wegen Besitzes von 0,117 Gramm Gras vor Gericht gebracht, aber nicht verurteilt werden konnte, weil das Bundesverfassungsgericht den Besitz geringer Mengen für den Eigengebrauch von der Strafe ausgenommen hatte. Dieses richtungsweisende Urteil war natürlich schon vor der lautstarken Ankündigung der Nulltoleranz-Strategie bekannt.
Trotz des Erfolgs in New York City ist die Nulltoleranz-Strategie nicht unumstritten. Kurt Mühler, Professor für Soziologie an der Uni Leipzig und u. a. Experte für abweichendes Verhalten, bestreitet nicht, dass damit die Kriminalität gesenkt werden könne. Die Frage sei vielmehr, zu welchem Preis dies geschehe, z.B. in Form von Einschränkung der Handlungsfreiheit und der demokratischen Rechte. (Kurt Mühler: Zum Einfluss der Wahrnehmung von Unordnung auf das Sicherheitsempfinden)
«Unangemessene Härte kann Frustration aufbauen, was sich früher oder später in auffälliger Form manifestiert», sagt der Luzerner Rechtssoziologe Umberto Hollenweger auf Anfrage. Es brauche in der Gesellschaft «Platz für Verspieltheit». Hollenweger ist Gründer der ersten Rechtspermanence der Schweiz, die rund um die Uhr Hilfe bei juristischen Problemen und Rechtskurse für Laien anbietet.
Den Schwierigkeiten bei der Umsetzung zum Trotz wird für immer mehr Regelverstösse die Nulltoleranz gefordert. Ein paar Beispiele:
• «Nulltoleranz für Belästigung in der Badi» kündigte die Berner Gemeinderätin Franziska Teuscher im April 2018 an.
• «Nulltoleranz für gefälschte Arzneimittel» soll nach Ansicht des neugegründeten schweizerischen Verbandes für die Verifizierung von Arzneimitteln SMVO gelten.
• «Nulltoleranz … gegen sexuelle Übergriffe und Missbrauch» forderte das Eidg. Departement des Äusseren im Oktober an einer Konferenz der OECD.
• «Nulltoleranz gegenüber radikalem Islam in der Schweiz», SVP-Delegiertenversammlung vom Oktober 2017.
• «Nulltoleranz gegenüber Täterinnen und Tätern», Fachstelle für häusliche Gewalt der Polizei des Kantons Thurgau.
In allen diesen Fällen fehlen den Forderungen entweder die breite Akzeptanz, oder die Mittel zur Durchsetzung: Überwachung, Personal und schnelle Verfahren. Ist dies der Grund, warum die Polizeibehörden auf die Frage, wo in der Schweiz eine Null-Toleranz-Strategie umgesetzt wird und mit welchen Regeln und Erfahrungen, ausgesprochen wortkarg reagieren. Die Konferenz der Sicherheitsdirektoren, zuständig für den politischen Entscheid, verwies an die Konferenz der Polizeikommandanten. Deren Medienstelle liess ausrichten, sie könne die Frage nicht beantworten.
Nulltoleranz ist offenbar eher etwas, das gefordert, angekündigt oder angedroht, aber nicht umgesetzt wird. Von Ausnahmen abgesehen, funktioniert sie vermutlich auch nicht wirklich. Zum Einen müsste sie für alle gleich angewendet werden, also nicht nur für Schwarzfahrer in der U-Bahn, sondern auch für Steuerhinterzieher auf den Teppichetagen. Und zum Anderen weiss man aus der Wirtschaft, dass die Vermeidung jedweder Fehler teuer ist und die Motivation hemmt. Das Schöne an den Fehlern ist ja, dass man aus ihnen lernen kann.
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