Warum Gemeinschaft?
Damanhur* im Piemont in Italien ist eine der grössten Gemeinschaften der Welt. Vor 40 Jahren gründete der spirituelle Lehrer Oberto Airaudi aus Turin – oder mit Damanhur-Namen Falco Tarassaco – die «Föderation von Damanhur». Ich sprach mit Macaco Tamerice darüber, wie es nach dessen Tod vor zehn Jahren weiterging.
Dass sie sich alle Tier- und Pflanzennamen geben, ist nicht nur Ausdruck ihres kreativen Charmes. Es ist auch eine ständige Erinnerung daran, dass wir nicht allein sind auf der Welt – sondern mit allem verbunden sind, was lebt. «Gerade bei den Tieren und Pflanzen, die am Aussterben sind, ist es uns wichtig, ihren Namen jeden Tag zu nennen.
Macaco Tamerice – also «Meerkatze Tamariske» – ist Deutsche und war eine erfolgreiche Jazzsängerin, bis sie recht spontan aus ihrer Karriere ausstieg und nach Damanhur zog. Mittlerweile lebt sie 30 Jahre hier. Sie unterrichtet im Rahmen der Ecovillage Design Education Menschen aus ganz Europa darin, wie sie Gemeinschaft aufbauen und damit etwas in der Welt bewirken können.
Zeitpunkt: Was ist denn im Kern deine Aussage, was erfahren die Menschen?
Macaco Tamerice: Im Kern geht es darum, dass wir Menschen Individualisten, aber auch Gruppentiere sind. Wir haben aber das Gruppendasein verlernt. Das führt dazu, dass so viele Menschen unter Einsamkeit leiden – und all ihren Folgeerscheinungen. Wir Menschen haben enorme Schwierigkeiten zu verstehen, dass wir Teil eines Ganzen sind, und uns mit diesem Ganzen zu identifizieren. Wir sind mit allen Menschen verbunden, nicht nur mit denen, die uns am nächsten sind – und gleichzeitig auch mit dem Planeten.
Und das Leben in einer Gemeinschaft ist heilend, einfach schon mal so.
Diese Verbindung, die indigene Völker noch haben, ist uns verloren gegangen. Das führt zu den ganzen Zivilisationskrankheiten, die man kennt, bis hin zu Drogen und Sucht.
Und das Leben in einer Gemeinschaft ist heilend, einfach schon mal so. Gemeinschaften sind Laboratorien der Zukunft, weil man diese Verbundenheit dort wieder lernen kann.
Aber wenn man nun denkt, dass in einer Gemeinschaft alles einfach ist und man dort seinen Papa und seine Mama hätte, die alles für einen tun – das ist so nicht. In einer Gemeinschaft zu leben, ist anspruchsvoll, ja anstrengend.
Es ist wunderschön, unglaublich bereichernd, aber auch anstrengend. Denn du erhältst dauernd Spiegel. Wir sind nur gewöhnt, uns von vorne anzuschauen, nicht von der Seite und schon gar nicht von hinten. Und in einer Gemeinschaft spiegeln die Menschen einen von allen Seiten, und das bringt einen dazu, dass man all seine persönlichen Trigger, die ja mit Trauma verbunden sind, anschauen muss.
Ich verstehe dich so, dass andere Menschen, die einen vielleicht ärgern, Spiegel für etwas Eigenes sind. Das aber so aufzufassen, ist ja schon ein höherer Bewusstseinsschritt.
Ja, das ist so. Und das lernt man in einer Gemeinschaft automatisch – ganz von selbst. Da muss man gar nichts extra tun und braucht keine extra Praxis oder Theorie. Das passiert einfach. Und dann ist es wichtig: Jedes Mal, wenn ich einen Konflikt löse, der ausserhalb von mir stattgefunden hat, wenn ich dazu in der Lage war, dann habe ich in Wirklichkeit auch einen inneren Konflikt gelöst.
Und was auch noch wichtig ist, dass wir uns nicht allzu ernst nehmen. Man muss sich in seiner Essenz ernstnehmen, 100%ig und noch mehr. Aber in den ganzen Triggern, die wir leben, sollte man sich nicht so ernstnehmen.
In allen Gruppen oder Teams oder Gemeinschaften, die ich kenne, entstehen blinde Flecken, mal stärker, mal weniger stark. Man entwickelt eine Binnenwahrnehmung, die nicht mehr genug von aussen korrigiert wird. Das können Ideologien sein oder andere Deutungen der Wirklichkeit. Wie vermeidet ihr das?
Indem man immer offen bleibt für Feedback und alles von verschiedenen Seiten anschaut. Blinde Flecken entstehen vor allem, wenn Gruppen noch nicht so lange existieren und wenn die Rollen zu einseitig verteilt sind. Am Anfang von Damanhur war Falco der Gründer und hatte auch innerhalb der Organisation ganz viele leitende Rollen. Aber schon nach zehn Jahren hat er diese Rollen alle aufgegeben und wollte damit nichts mehr zu tun haben.
Alle Menschen in Damanhur haben alle möglichen Rollen angenommen und sich damit auf allen Ebenen auseinandergesetzt - und die Rollen dann auch wieder abgegeben. Und damit bekommt man die grösste Spiegelung, die man haben kann, das ist sehr lehrreich.
Es gibt keine festen Strukturen von immer denselben Leuten in Leitungspositionen. Sonst könnte sich das leicht einspielen, dass man einseitig wird oder immer denselben Charakter, dieselbe Farbe hat, weil es immer dieselben Leute sind, die das prägen.
Viele Gemeinschaften zerbrechen, nachdem die Gründer weg sind oder sterben. Falco ist vor zehn Jahren verstorben – wie ging es weiter nach seinem Tod?
Es ist wichtig zu verstehen, dass Falco zwar ein spiritueller Lehrer war, aber nicht der Leiter von Damanhur. Die Struktur war davon also unberührt, dass Falco nicht mehr da war. Wir haben uns in der Zeit mehrmals neu erfunden – und auch gefunden. Das Grösste, was Falco uns hinterlassen hat, war zu träumen. Wirklich gross zu träumen und zu denken, dass es möglich ist. Wir Menschen haben sehr grosse Möglichkeiten.
Und das war wichtig, denn wir hatten sehr grosse Finanzprobleme. Wir sind alle unterhalten die Kinder, die schwangeren Frauen, alle Projekte, Leute, die nicht mehr arbeiten können. Wir haben eine soziale Struktur, die sehr teuer ist. Da mussten wir alles noch einmal überdenken. In Damanhur sind alles Idealisten. Wer in einer Gemeinschaft lebt, ist Idealist, das ist klar. Und da möchte man sich nicht immer mit Finanzen beschäftigen. Das war also keine einfache Zeit.
Aber es ist uns gelungen, die Teilnahme aller an der Gemeinschaft wieder zu stärken. Wir waren ja immer eine Föderation der Gemeinschaften, aber jetzt haben wir vier Untergemeinschaften gegründet. Sie sind sehr unterschiedlich. Jede von ihnen hat eine eigene Ausrichtung. Da ist der Raum, mit dem man sich identifiziert, wieder kleiner geworden, und das hat wieder mehr Nähe und Selbstverantwortung in der Gruppe erzeugt.
Sind die Untergemeinschaften gleichbedeutend mit den Wohngemeinschaften, den Nucleos?
Nein, jede Untergemeinschaft besteht aus 10-12 Nucleos, und jeder Nucleo aus 10-20 Menschen. Da findet das Alltagsleben statt. Darüber hinaus ist jeder von uns Teil eines spirituellen Weges. Da gibt es z.B. den Weg des Wortes, der Kunst, des Theaters und der Musik; dann gibt es den Weg der Gesundheit, der Erziehung, usw. usf. Da organisieren wir auch Events und machen verschiedene Sachen. Vor allem die Theatergruppe ist unheimlich aktiv und wichtig. Dh. das sind Wege, wo wir auf ganz praktische Weise versuchen, zur Erleuchtung zu kommen, wenn man das jetzt mal so platt sagen möchte.
Das vollständige Gespräch wird in den nächsten Wochen zu hören sein als Zeitpunkt-Terra-Nova-Podcast. Ein Abo ist kostenlos.
* Damanhur liegt im Piemont in Norditalien, etwa 50 km nördlich von Turin, in den Vorbergen der Alpen im Tal der Valchiusella. Zur Gemeinschaft gehören etwa 1100 Menschen, 600 davon leben vor Ort, 500 an anderen Orten der Welt.
Die Gemeinschaft wurde 1975 von Oberto Airaudi (Falco Tarassaco) gegründet und wurde durch den gigantischen unterirdischen «Tempel der Menschheit» bekannt, den sie seit 1978, anfangs komplett im Geheimen, baute. Inzwischen ist er als Kulturdenkmal anerkannt. Mehr dazu im nächsten Zeitpunkt.
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