Auf der «Insel der weissen Kuh»
Wie ich auf Inishbofin eine stehengebliebene Zeit erlebte, wie die Bewohner der Nachbarinsel ihr Zuhause zurücklassen mussten – und wann sich die weisse Kuh wieder zeigen wird. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt #62
«Welche Station kommt als nächste nach Inishbofin?» fragte mich, vielsagend lächelnd, ein Inselbewohner während der Fahrt auf die Insel. «Manhattan», gab er gleich selber die Antwort. Weil die Insel im äussersten irischen Westen liege, sei der nächste Ort in westlicher Richtung New York. Doch als ich ankam, war mein erster, etwas düsterer Eindruck: Amerikas grösste Stadt liegt unendlich weit weg. Verlassenheit und Stillstand empfingen mich. Später, wieder zu Hause, schrieb ich in meinem Reisebericht für den Tages-Anzeiger:
«Auf Inishbofin gibt es keinen einzigen Beamten. Zeigen die Uhren in den beiden Pubs eine halbe Stunde vor Mitternacht an, so erscheint niemand, um die Polizeistunde anzuzeigen; auch ein Steuereintreiber wird nicht benötigt, denn die Inselbewohner müssen keine Steuern entrichten; die meisten von ihnen verfügen nur über Naturaleinkommen. Und wo keine Gemeindeversammlung existiert, ist auch kein Bürgermeister. Dafür gibt es einen jungen Priester, der ein geräumiges Pfarrhaus bewohnt und seine Schäfchen sonntags in drei Messen in der stattlichen Kirche versammelt. Für den Seelenfrieden ist auf traditionell irisch-katholische Art also bestens gesorgt – für das Wohlergehen des Körpers hingegen weniger. Nur einmal wöchentlich kommt ein Arzt auf die Insel.»
«Überhaupt mangelt es Inishbofin an vielen Dingen, auf die wir wohl nicht verzichten würden. Über fliessendes Wasser verfügen nur die beiden Pubs und das Pfarrhaus – der Rest der rund 280 Einwohner holt sich das Wasser per Eimer von den Grundwasserbrunnen. Die gleichen privilegierten Lokalitäten benützen ausserdem Generatoren für den elektrischen Strom – alle anderen Inselhäuser müssen sich mit Gasflaschen und Torf behelfen: das Gas für Licht und Herd, der Torf für das obligate Kaminfeuer. Holz steht nicht zur Verfügung, denn auf der Insel wachsen wegen des unablässig wehenden Windes nur wenig Bäume.»
«Dass im Laden der Insel keine Gemüse und Früchte im Angebot sind, macht deutlich, wie einseitig die Ernährung der Inselbewohner sein muss. Sie wird nur teilweise aufgewertet durch die Kartoffeln, den Fisch und das Schaffleisch, das die Bofiner, wie sie sich nennen, selber gewinnen.»
Was mir keine Schulstunde jemals vermittelt hatte, lernte ich hier auf eigene Faust: Wie Menschen lebten, die vom Leben nicht im gleichen Masse begünstigt wurden wie wir in der Schweiz. Von Armut und Hunger in Afrika zu erfahren, hatte mich als junger Mensch nie sehr betroffen gemacht. Afrika war weit weg. Doch diese irische Insel, das war Europa, und das beschäftigte mich. Irland war die Schule, die mir wirkliches Wissen vermittelte. Ich hatte bereits in Derry erlebt, was Armut bedeutet. Doch das karge Leben in den katholischen Vierteln war bedingt durch die politischen Umstände. An der Armut auf Inishbofin dagegen war nicht die Politik schuld. Hier lernte ich, wie es ist, wenn die Natur, in welcher man lebt, nicht zum Leben reicht.
Ich mietete ein leerstehendes Cottage, eines der vielen, die von Auswanderern aufgegeben und sich selbst überlassen wurden, durchstreifte die Insel und kam ins Gespräch mit den wenigen Menschen, die ich auf den ungepflasterten Wegen antraf. Von ihnen erfuhr ich, wie sie dem Boden der Insel, die ihr angestammtes Zuhause war, eine menschenwürdige Existenz abzuringen versuchten.
«Die Fischerei bildet nur für wenige Inselbewohner eine Lebensgrundlage, da die Gewässer rund um Inishbofin nicht mehr fischreich sind. Die Ausbeute deckt meist nur den Eigenbedarf und erlaubt keine neuen Anschaffungen, weshalb sich die Fischer mit ihren kleinen, für Hochseefischerei ungeeigneten Kuttern begnügen müssen. Ausserdem kreuzen seit einigen Jahren vermehrt fremde, meist französische Boote in der Nähe der Insel, die bei Nacht Raubfang betreiben. Die Sache wurde publik, als eines der Schiffe in Küstennähe auf Grund lief.»
«Die meisten Inselbewohner sind deshalb eher Bauern als Fischer. Neben Kühen halten sie Schafe, die auf dem Festland verkauft werden können. Aus der Wolle werden Pullover gestrickt. Esel verwendet man als Zugtiere, ein Traktor wäre zu teuer. Der fruchtbare Teil der Insel ist aufgeteilt in Parzellen, die innerhalb der Familien weitervererbt werden. Einer der Bauern meinte dazu: ‹Könnte ein einziger Bauer das ganze Land bewirtschaften, so hätte er wenigstens genug Arbeit.› Und so bedeutet Landarbeit auf der Insel zwar viel freie Zeit, aber auch wenig Ertrag. Erntezeit ist im Herbst, wenn es Zeit wird für die Kartoffeln und das Stechen des Torfs. Beides dient jedoch nur dem Eigenbedarf, denn in Irland mangelt es nirgends an Torf und Kartoffeln.»
Als ich Inishbofin besuchte, hatte die Insel in 50 Jahren die Hälfte ihrer Bewohner verloren. «Die jungen Leute emigrieren aufs irische Festland, in Englands Industriegebiete oder sogar in die USA. Sie bauen sich dort eine neue Existenz auf und kehren höchstens in den Ferien auf die Heimatinsel zurück. Im Sommer lebt Bofin auf, und die beiden Pubs haben Hochbetrieb. Geht der Sommer zur Neige, bleiben nur noch die Unentschlossenen und die Alten zurück.»
Im Sommer davor, als ich mit Elias hier war, herrschte tatsächlich mehr Betrieb auf der Insel. Doch jetzt, nach Ostern, befand sich Inishbofin noch immer im Winterschlaf. Überall leere Häuser und Hütten, aus denen kein Rauch aufstieg. Ich sehe die wenig belebte, in ihrer Kargheit verharrende Landschaft immer noch vor mir. Wollte ich Menschen treffen, gab es nur einen Ort.
«Das gesamte Inselleben konzentriert sich abends im einen oder im anderen Pub, wo – neben dem Pfarrhaus – die beiden einzigen Fernsehgeräte der Insel stehen. Die Television gewährt den Inselbewohnern Abend für Abend Einblicke in die moderne Zeit, die auf den ersten Blick so verlockend scheint, dann aber doch vielen ausgewanderten Iren das Gefühl der Heimatlosigkeit gibt. Dennoch bleiben die meisten dort. Mit ihrem Heimweh bezahlen sie den Komfort, auf den sie nicht mehr verzichten mögen.»
Im Pub kam ich ins Gespräch mit zwei jüngeren Männern, die beide immer noch auf der Insel lebten. Doch ihre Beweggründe waren sehr unterschiedlich. «Der 25jährige Mickey wohnt mit Schwester und Mutter zusammen im Elternhaus. Er arbeitete ein paar Jahre in England, kehrte dann aber aus gesundheitlichen Gründen zurück und geht seither, abgesehen von etwas Landarbeit, keiner ständigen Arbeit mehr nach. Zuhause sitzt er am Kaminfeuer, liest und grübelt, wie er selbst zugibt, und abends trifft man ihn dann im Pub wo er nicht zuletzt dank dem dunklen, bitteren Bier etwas auflebt. Wenn man Mickey nach seiner Zukunft fragt, schwärmt er von der Eröffnung eines Hotels auf der Insel – doch der Mut verlässt ihn, wenn er ans Aufbringen der Finanzen denkt. Ohne Initiative und eigentlich unglücklich lebt er unverheiratet, wie andere junge Männer auf der Insel dahin und spielt erneut mit Gedanken an Emigration.»
«Jim hingegen, ein ebenso sympathischer junger Mann, kehrte aus England zurück, um auf der Insel eine Existenz aufzubauen. Er arbeitet als Fischer und Bauer und lebt mit seiner Familie in einem selber erneuerten Cottage. Auswandern möchte er nicht mehr, denn inzwischen hat er zusammen mit seiner Frau ein Restaurant aufgemacht, das jeweils im Sommer der wachsenden Zahl an Touristen offenstehen soll.»
Auch auf Inishbofin, wie an vielen anderen Orten in Irland, schien der Tourismus die einzige Zukunftsperspektive zu sein. Neben dem Restaurant öffnete ein kleines Hotel seine Türen, Cottages wurden umgestaltet zu Ferienhäuschen, ein weiterer kleiner Laden wurde eröffnet, und der Fährverkehr mit Cleggan wurde erweitert auf mehrere Boote täglich. Was ich in meiner Reportage aufzählte, tönte alles sehr zuversichtlich und wie ein positiver Kontrast zum unveränderten schleichenden Niedergang der kleinen Atlantikinsel.
So hoffnungsvoll aber durfte mein Blick auf Inishbofin nicht enden. Als oppositionell denkender junger Mensch wollte ich die gesellschaftliche Entwicklung nicht loben. Der Kapitalismus durfte nicht positiv wegkommen. Meine Grundhaltung musste kritisch sein. Die letzten Zeilen meines Berichts lauteten deshalb: «Beim Grossteil der Inselbevölkerung ist vom Optimismus auf eine bessere Zukunft wenig zu spüren. Ohne grosse Erwartungen leben die Leute in den Tag hinein, sind mit ihrer Situation zwar unzufrieden, unternehmen aber nichts dagegen. Die Energie, auszuwandern haben sie bereits nicht mehr. Eine Art stille Resignation hat sie erfasst.»
***
Heute, 50 Jahre danach, ist die Einwohnerzahl weiter gesunken. Gerade noch 180 Menschen leben auf Inishbofin. Gleichzeitig findet auf der Atlantikinsel Sommer für Sommer dasselbe statt wie an vielen wildromantischen Orten in Irland. An schönen Tagen kommen fast gleichviel Touristen nach Inishbofin wie die Insel Einwohner hat. Über zwanzig Cottages und mehrere kleine Hotels bieten den Gästen Unterkunft an, und auch Jim’s damals eröffnetes Restaurant – wenn es noch existiert – ist schon lange nicht mehr das einzige. Eine professionell gestaltete Website lädt zu einem Aufenthalt auf der Insel ein, und sogar eine Landebahn für kleinere Flugzeuge wurde vor vielen Jahren erstellt.
Doch bis heute wurde der Flugplatz nicht in Betrieb genommen, als würde es sich nicht lohnen. Ich stelle mir vor, dass die Insel am Ende der flüchtigen Sommersaison noch immer in den lange dauernden Winterschlaf sinkt. Würde ich sie heute besuchen, dann wäre mein erster Eindruck wohl derselbe wie damals: Auf Inishbofin schlagen die Herzen langsamer.
Mein Interesse heute jedoch würde nicht nur den Themen meiner Reportage von damals gelten. Ebenso interessieren würde mich zum Beispiel die Insel, die sich gleich neben Bofin, aber weiter draussen im Atlantik befindet. Sie heisst Inishark, und vor langer Zeit lebten 200 Menschen dort. Sie ernährten sich aus dem Meer und von dem wenigen, das die Erde hergab. Doch im Winter, wenn sich die See von ihrer stürmischsten Seite zeigte, war die Insel manchmal monatelang isoliert. Nicht einmal nach Inishbofin konnte man übersetzen.
Immer mehr junge Bewohner von Inishark verliessen deshalb das Eiland. Ein kleiner Hafen hätte gebaut werden müssen, um Inishark vor der Abwanderung zu bewahren. Doch die Provinzregierung entschied sich gegen die Investition und beschloss, die zuletzt noch verbliebenen 33 Bewohner müssten die Insel verlassen. Man offerierte ihnen eine neue Ansiedlung auf dem Festland. So kam es, dass Inishark eines Tages, nur 13 Jahre vor meinem Besuch auf Inishbofin, evakuiert wurde. Zurück blieben leere Häuser, in denen man immer noch hätte wohnen können, Land, das noch immer bebaut werden könnte – und eine Kirche, deren Glocken für immer verstummt sind.
Bei meinem Aufenthalt auf Inishbofin habe auch ich die verlassene Insel und ihre leeren Häuser und Hütten gesehen, und ihr Anblick hatte etwas Gespenstisches. Was ich empfand, als ich hinüberschaute, würde mich heute dazu bewegen, dem Schicksal der Menschen von Inishark nachzugehen. Doch zu jener Zeit fand ich es wichtiger, über die Gegenwart von Inishbofin zu schreiben. Alles, was damals schon Vergangenheit war, interessierte mich nicht.
Ich kam auch nicht auf die Idee, in meinem Bericht zu erzählen, warum Inishbofin «Insel der weissen Kuh» heisst. Die Bofiner hätten es mir erklären können. Der Legende nach landeten eines Tages in alter Zeit Fischer auf der Atlantikinsel. Da lichtete sich der Nebel und sie erblickten ein altes Weib, das eine weiße Kuh mit sich führte. Als die Alte ihre Kuh schlug, verwandelte sich das Tier in einen Felsen. Alle sieben Jahre soll sich die Frau mit der Kuh noch heute genau an der Stelle zeigen, wo sie von den Fischern gesichtet wurde. Eine andere Quelle dagegen besagt, die weisse Kuh würde immer nur dann auftauchen, wenn ein Unglück bevorstehe.
Heute würde ich diese Prophezeiung erwähnen. Aber damals wusste ich nicht, dass eine Wahrheit auch in den Sagen wirkt. Ich war an einem anderen Punkt meiner Bewusstwerdung. Alles, was ich in Irland erlebte, sah ich durch die sozialkritische Brille. Gleichzeitig liebte ich dieses Land, seine Menschen und seine Musik, die auch in Inishbofin abends im Pub erklang. Und ich war überzeugt, dass ich auf die grüne Insel zurückkehren würde.
***
Doch das Leben hat es anders gewollt. Ich bin seither nie mehr in Irland gewesen, obwohl ich heute noch davon schwärme. Andere Orte, andere Länder, andere Fächer in der Schule des Lebens drängten sich vor. Schon wenige Wochen nach meiner Rückkehr setzte ich mich einer neuen Erfahrung aus. Ein Genosse im «focus»-Redaktionskollektiv wohnte in einer WG am Zürcher Stadtrand, und in der WG wurde ein Platz frei. Bruno fragte mich, ob ich einziehen wolle. Ohne Zögern sagte ich Ja. Denn ich wollte meine Selbständigkeit, die ich auf meiner Irland-Reise so richtig entdeckt hatte, nie mehr hergeben. Die Heimkehr ins Elternhaus am reichen Zürichsee empfand ich als Rückschritt. Die Diskussionen mit meinen Eltern fand ich sinnlos und ohne Gewinn für mich. Ich wollte mein Leben mit Gleichgesinnten und Gleichaltrigen teilen. Und ich wollte nicht mehr von der Goldküste kommen.
Ende Mai zog ich aus. Mit Stereoplattenspieler, zwei Harassen voller Platten, einer Kiste mit Büchern, dem «Hermes Baby», meiner heiligen Schreibmaschine und einer Matratze. Ich zog von Küsnacht auf die Waldegg. Von einer Steueroase in die nächste.
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Weiterführende Links:
Webseite von Inishbofin
«Death of an Island» - Ein fünfteiliger Dokumentarfilm über den Auszug der Menschen von Inishark
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Nächste Folge: 3. Dezember
Weitere Folgen dieser Serie:
«Wenn nicht wir die Briten verjagen, werden es unsere Söhne tun»
«Hier macht sich niemand mehr Illusionen»
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