«Hier macht sich niemand mehr Illusionen»

Ostern 1973. Wie ich in Derry ein ganz anderes Pub erlebte, wie die O’Connors Ostern feierten und wie die Jugendlichen der Bogside das Wochenende verbrachten. Serie «ALS ICH MICH IN DIE WELT VERLIEBTE – Chronik einer Leidenschaft» von Nicolas Lindt, Folge 60.

Der «Free Derry Corner» 1970 und Bilder von der Derry Easter Parade 2023. Bildcollage: Nicolas Lindt

Am Abend des Ostersamstags betrat ich in Derry das Bogside Inn, das einzige Pub im katholischen Arbeiterviertel, das ich von unserem Aufenthalt im Jahr davor bereits kannte. Schon bei meinem ersten Besuch hatte mich die Stimmung in diesem Pub fasziniert – und auch jetzt, vom ersten Moment an, umhüllte mich der erdige, proletarisch-irische Äther und entfachte schwärmerische Gefühle in mir. Was für ein Gegensatz zum Dubliner Literatenpub mit seinen Poeten und Dandys – was für ein Gegensatz auch zur Hafenspelunke in Belfast. Ein kämpferischer, rebellischer Geist erfüllte die Bogside Inn – und ich war ein Teil davon.

«Allmählich füllt sich der Raum mit Gästen», beschrieb ich den Abend im Tagebuch, «und die Bestellungen an der Bar häufen sich. Diese Menschen hier haben vor allem eines gemeinsam: Sie alle leben in diesem katholischen Getto mitten in Derry, und sie fühlen sich solidarisch. An einem der Tische diskutiert man den Osterausflug ins nahe Südirland, wo auch am Sonntag einige Pubs geöffnet sein werden, in einer anderen Ecke diskutieren Jugendliche über die Frage, ob die Aktionen der Provisional IRA gerechtfertigt seien – vor allem aber wird viel gebechert an diesem Abend. Denn morgen, am Ostersonntag feiern die Katholiken nicht mit Guinness und Scotch, sondern mit Parolen und Flaggen.»

«Je weiter der Abend vorrückt, desto ausgelassener werden die Gäste. Schließlich beginnt man die Kampflieder der IRA anzustimmen, und vom kaufmännischen Angestellten, der eine Katholikin aus der Bogside zur Frau hat, über die jüngsten Gäste bis zu den alten betrunkenen Frauen singen alle mit und prosten einander zu. Als eine Gruppe junger Frauen das Pub betritt, werden sie mit Hallo begrüsst. ‹Up the Provos› rufen die älteren Gäste, denn die Frauen sind Ehefrauen der Strassenkämpfer. In ihre geöffneten Handtaschen werden fleissig Pennies gespendet und es wird applaudiert, während die Jungen im Pub die Emotionen der Älteren lächelnd verfolgen, sich aber selber zurückhalten.»

Die Gelassenheit der jungen Gäste machte mir besonderen Eindruck. Sie strahlten für mich eine «Coolness» aus, die ich bei meinen Altersgenossen zu Hause vermisste. Wie alle idealistischen jungen Menschen verklärte auch ich die Verhältnisse, wie sie anderswo waren. Gegen die jungen Leute der Bogside hatte die Wohlstandsjugend der Schweiz keinen Stich.

Mein Respekt wurde noch grösser, nachdem ich Duncan getroffen hatte. Brian in Belfast hatte mir den Kontakt vermittelt, mir aber geraten, nicht genau nachzufragen, was Duncan machte. Er war arbeitslos, aber ich hatte sofort die Vermutung, dass er zur Derry Brigade der Provos gehörte. Er erschien am späteren Abend im Pub, hielt nach mir Ausschau und steuerte dann auf mich zu, ein breites Grinsen auf seinen Lippen. Brian hatte ihm meine Ankunft telefonisch gemeldet und ihm erklärt, dass ich über die «Troubles» zu schreiben gedenke. Offenbar hielt Duncan mich für vertrauenswürdig, denn er trank nicht nur ein Guinness mit mir, sondern lud mich auch ein, in der Wohnung, die er mit seiner Freundin teilte, zu übernachten.

Die Wohnung, in die wir spätabends gelangten, entpuppte sich als ein Zimmer mit Küche, die auch als Bad diente. Die Toilette befand sich im Treppenhaus, und der einzige Ort, wo ich meinen Schlafsack ausrollen konnte, war der Platz zwischen Küche und Eingang. Mehr notierte ich im Tagebuch nicht – dafür verfasste ich einen um so längeren Eintrag am Ostersonntag, als Duncan mich mitnahm zu seiner Familie, die ebenfalls um die Ecke wohnte.

«Die Bogside», begann ich mit meiner Schilderung, «bietet schon auf den ersten Blick ein trostloses Bild. Sie besteht hauptsächlich aus eng aneinander gereihten niederen Blöcken, wie ich sie schon in Belfasts Armenquartieren sah. Die meisten grenzen direkt an den Gehsteig, und auch die sonst typischen Hinterhöfe sind selten. Zum Spielen bleibt für die Kinder kein Platz. In den Häusern wohnen vor allem Arbeitslose mit ihren Familien, hier rekrutiert die IRA ihren Nachwuchs, hier macht sich niemand mehr Illusionen.»

«In der ganzen Bogside sind seit dem Beginn der Unruhen trotz der hohen Einwohnerzahl nur wenige Läden übriggeblieben. Ein dürftiges Community Center, eine Krankenstation, das Pub, mehr gibt es nicht. Die Schulen liegen ausserhalb des Quartiers. An der Kulisse ausgebrannter Häuser und Rebellenparolen vorbei erreiche ich mit Duncan den Reihenhausteil, wo sein Vater mit zwei von Duncans Geschwistern und ihren Familien wohnt. Wir betreten die Wohnung im ersten Stock, abgestandene Luft schlägt mir entgegen – doch die Gastfreundlichkeit, die mich bei den O’Connors empfängt, beschämt mich ein weiteres Mal.» 

«Der Grossvater, eine Schwester Duncans mit ihrem Mann und zwei Kindern, ein Bruder mit seiner Frau und zwei Kindern – sie alle müssen vorlieb nehmen mit zwei Schlafzimmern und einer Küche, die auch als Wohnzimmer herhalten muss. Zum Essen möchten sie mich aber unbedingt einladen. Ihr Ostermahl besteht aus Spaghetti und Büchsenerbsen, dazu gibt es Brot und Tee und trockene Biskuits zum Dessert. Weil der Küchentisch für alle zu klein ist, nehmen die beiden Eltern die karge Mahlzeit im Stehen zu sich.»

«Doch die Familie lässt sich die gute Laune nicht nehmen. Alle freuen sich auf die Easter Parade, die an Ostern durch die katholischen Stadtteile führt und von der Provisional IRA angeführt und gesichert wird. Auch Duncans Bruder ebenso wie sein Schwager gehören offenbar den Provisionals an. Sie diskutieren während des Essens darüber, ob sie in der offiziellen olivgrünen Uniformjacke mit schwarzem Beret erscheinen sollen oder unauffälliger in Zivil. Doch der Stolz, zu den Beschützern des Quartiers zu gehören, überwiegt die Vorsicht. Sie entscheiden sich für die Uniform.»

«In einer Ecke steht eine Kiste mit einem Neugeborenen, das jetzt zu weinen beginnt. Duncans Schwester, die bereits wieder schwanger ist, nimmt das Kind zu sich. Auch sie will an der Osterparade teilnehmen, wie die meisten Frauen hier in der Bogside. Die Kinder werden vom Grossvater übernommen, der mit ihnen zuhause bleibt. Am Essen nimmt er nicht teil, er beschränkt sich auf Tee und Bisquits, aber in die Erziehung mischt er sich laufend ein. Ich spüre die Spannung, die jede seiner Bemerkungen auslöst. Das dämpft ein wenig die Laune. Die Belastung ist gross, wenn mehrere Generationen sich auf engem Raum arrangieren müssen. Im Notfall schweigen die Jungen, oder sie verlassen die Küche für einen Moment. Das Bedürfnis, wieder nach draussen zu gehen, wird auch bei mir immer stärker. Nach einer Weile gebe ich mir einen Ruck, bedanke mich für die Grosszügigkeit dieser Menschen und verabschiede mich. Wie befreit trete ich auf die Strasse hinaus. Nie zuvor habe ich proletarisches Milieu so bedrückend erlebt.»

Während andere junge Schweizer irgendwo in der Dritten Welt das erstemal lernten, was Armut bedeutet, wurde mir in Irland bewusst, wie gut es uns in der Schweiz ging. Hier in der Bogside, in der engen Küche der O’Connors machte auch ich die Erfahrung, über die wir immer wieder erstaunt sind: Dass die Türen bei Menschen, die wenig besitzen, offener stehen als bei Menschen, die viel besitzen. Weil die O'Connors nichts anderes kannten als ihre bescheidene Existenz, lebten sie mehr im Sein als im Haben – und sie teilten das Sein mit dem Gast aus der Schweiz.

***

Eine Stunde später stand ich mit vielen anderen Menschen am Eingang der Bogside, wo an einer Hauswand noch immer der Kampfruf prangte, den ich vor einem Jahr schon bewundert hatte: «You are now entering Free Derry». Obwohl die Armee die Kontrolle über das rebellische Viertel inzwischen wiedergewonnen hatte, stand der Slogan immer noch da, jeden Zweifel verneinend, die Bewohner der Bogside könnten sich dem Diktat der Besatzer ergeben haben.

Direkt unter dem Schriftzug formierte sich nun die Easter Rising Parade, die Parade der Katholiken von Derry, die an den irischen Osteraufstand 1916 gegen die britische Herrschaft erinnern sollte. Als ich das erstemal in Nordirland war, hatte ich die protestantische Orange Parade in Belfast erlebt. Doch während die Protestanten provozierend auch durch katholische Strassen zogen, beschränkten sich die Katholiken in Derry auf ihre eigenen Viertel. Für mich war es nur ein neuer Beweis – ein Beweis für die Zurückhaltung der katholischen Minderheit gegenüber der Arroganz der protestantischen Mehrheit.

Wie ich später nachlesen konnte, nahmen an der Parade über 5’000 Menschen teil. Ein kämpferischer, immer länger werdender Zug setzte sich in Bewegung. Angeführt wurde er von uniformierten jungen Provisionals, alle mit Baskenmütze und Sonnenbrillen, um nicht erkannt zu werden. Einige trugen die grün-weiss-orange Flagge von Irland, andere hielten die Fahne der IRA hoch, das Maschinengewehr vor den irischen Farben. Hinter den Uniformierten folgte, ruhig und diszipliniert, das Volk, während ich auf dem Trottoir mitlief.

Die Armee trat während des ganzen Marsches nicht in Erscheinung. «Die Sicherheitskräfte», schrieb ich im Tagebuch, «haben offensichtlich dazugelernt. Sie wollen die Bevölkerung nicht unnötig provozieren und bleiben in ihren Unterständen, die sie auch in der Bogside stationiert haben. Dennoch lässt es sich nicht vermeiden, dass die Marschroute an einem der Posten vorbeiführt. Die Gucklöcher im Wellblechvorbau des Postens werden von Kindern mit Windjacken zugedeckt, damit es die Briten weniger einfach haben, zu fotografieren. Ihre Präsenz markieren sie dennoch. Mehrmals überfliegt ein Helikopter die Route des Umzugs.

Beim Friedhof angekommen, war die Parade zu Ende. Auf die Gräber gefallener IRA-Leute wurden Kränze gelegt, und es wurden Gebete gesprochen. Die gemessene, ruhige Stimmung liess fast ein wenig vergessen, dass in Nordirland immer noch Bürgerkrieg herrschte. Doch die Jugendlichen der Bogside wollten die trügerische Ruhe nicht hinnehmen. Gemeinsam zogen sie vor den nächsten Armeeposten. Ich folgte ihnen und wurde Zeuge eines Spektakels, wie man es offenbar jedes Wochenende erleben konnte.

«Ein Hagel von Steinen fliegt auf den Posten», schilderte ich im Tagebuch das Geschehen, «und für die Soldaten innerhalb des Gebäudes beginnt eine nervliche Zerreissprobe. Sie befinden sich hinter dem Wellblechvorbau und müssen nun das ununterbrochene Hämmern der Steine auf dem scheppernden Wellblech erdulden. Dass sie dadurch gereizt werden, versteht sich von selbst. Immer mehr Schaulustige gruppieren sich unterdessen um den grossen Platz vor dem Unterstand, wo erste, besonders mutige Jugendliche inzwischen vorgerückt sind und die Gucklöcher von aussen zudecken, sodass die Soldaten kein Tränengas aus den Öffnungen schießen können.

Dem ersten warnenden Gummigeschoss aus dem Innern des Postens heraus folgt unter Gejohle ein kurzes Zurückweichen. Dann rücken die Frechsten unter den Burschen erneut vor. Angefeuert von den zuschauenden Mädchen, schieben sie Stangen in die Löcher hinein. Als sie damit nicht aufhören, erscheinen plötzlich drei Soldaten mit Schutzschildern und Gummigeschossgewehren, werden aber mit weiteren Steinen und Triumphgeschrei zurück in den Posten getrieben. Am Rande des Platzes sehe ich Kinder, die im Schlachtenlärm ungerührt weiterspielen. Erwachsene hat es nur wenige. Diese Szenen ist man sich offenbar längst gewohnt.

Dafür stossen jetzt ein paar junge Männer zu den jugendlichen Akteuren und geben die eine oder andere Anweisung, damit das Steinewerfen mehr Wirkung hat. Als es den jungen Vandalen gelingt, das Dach des Vorbaus herunterzureissen, reagieren die Soldaten endlich: Alles flüchtet, als einige Tommies aus ihrer Deckung kommen und ein Panzerwagen vor das Gebäude fährt. Die Soldaten verteilen sich und feuern Rubberbullets – Gummigeschosse – in die entfesselte Menge, die sich um die Geschosse rauft, um sie als Kampftrophäen aufzubewahren. Nur selten taucht eine Mutter auf, die ihren Sprössling nach Hause holt. Die Erwachsenen lassen die Jugendlichen gewähren, denn auch ihnen ist klar, dass die Jungen wenig Abwechslung haben - und dass die Kämpfer der IRA ihre einzigen Vorbilder sind.»

Dass ich die Szene an jenem Sonntag in Derry in meinem Tagebuch so ausführlich schilderte, zeigt mir, wie sehr mich diese fast gleichaltrigen Jugendlichen beeindruckten. Steine werfen wollte ich keine, Gewalt lag mir nicht, doch radikal wollte ich sein – so radikal und so kämpferisch wie die Jugend der Bogside.

Gleichzeitig erkannte ich aber auch, wie absurd dieser Sonntagsspass war: «Besonders lächerlich scheint mir, mit welchem Ernst die jungen Soldaten gegen die Krieg spielenden Kinder antreten müssen. Die beiden Parteien, so kommt es mir vor, sind nicht wirklich verfeindet, doch die politische Situation zwingt sie zur Feindschaft. Sie werden sich nie die Hand reichen können.»

***

Die Osterparade in Nordirland zum Gedenken an den Osteraufstand der Iren vor hundert Jahren wird noch heute begangen. Jetzt, im gleichen Jahr 2023, während ich diese Zeilen schreibe, gingen die Katholiken in Belfast und Derry an Ostern ein weiteres Mal auf die Strasse, und wie jedes Mal führten sie Porträts der Gefallenen mit sich, die im Kampf für ein freies Irland ihr Leben eingebüsst hatten. Auf den mitgetragenen Fotografien waren aber nicht nur die Opfer des Osteraufstands von 1916 zu sehen, sondern auch IRA-Kämpfer, die während der «Troubles» den Heldentod fanden. Republikanische Flaggen wurden geschwenkt, wie damals, an jenem Sonntag, als ich in Derry war, und vor allem die Flagge von Irland war unübersehbar – zum Zeichen, dass die Katholiken im Norden den Traum eines wiedervereinigten Irlands noch immer träumen.

Während des Umzugs in Derry zündeten Jugendliche mehrere Brandbomben und warfen sie gegen ein Polizeiauto: Der abgespaltene Norden findet immer noch keine Ruhe. Als wäre der längst besiegelte Frieden immer noch faul.

Nächste Folge ausnahmsweise erst am 5. November

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Alle Teile der Serie «Wie ich mich in die Welt verliebte»

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

Weitere Bücher von Nicolas Lindt

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Kommentare

Heldentod

von al dorper
Hast du in Irland eine Kuh fotographiert?  Ich würde so gerne mal eine irische Kuh sehen.