Wieso Neutralität die bessere Moral ist
Die Schweizer Neutralität diente stets pragmatisch dem Überleben des Kleinstaates. Die heutigen Wortführer der Schweizer Politik verdrehen Neutralität in ihr Gegenteil: Neutral ist demnach, wer für die richtige Sache einsteht. (Ein Beitrag aus dem neuen Zeitpunkt-Magazin.)
Wieso erkennen selbst gestandene Geschichtsprofessoren nicht, dass sie damit einem Dogma und schlimmer: Propaganda aufsitzen? In seinem Buch «Moral über alles – Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen» erklärt der Politik- und Islamwissenschaftler Michael Lüders, wie die Sogkraft von Feindbildern geostrategische Hegemonialansprüche überdeckt.
Rückbesinnung, Bestandsaufnahme und Aussicht.
Edgar Bonjours 1978 erschienenes Grundlagenwerk «Schweizerische Neutralität» steht auch für eine Haltung – Michael Lüders würde sagen «typisch für die Jahre vor 1990» –, die Staatspolitik und Moral trennt. Aber zu Lüders später mehr.
Ein Zitat von Bonjour gefällig? In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg hatte die Schweiz als fast einziges Land keine diplomatischen Beziehungen mit der Sowjetunion aufgenommen. Die Exportwirtschaft drängte allerdings darauf, endlich wieder Geschäfte mit den Russen machen zu können. Bundesrat Giuseppe Motta begründete seine Zurückhaltung mit den herben Verlusten, die Schweizer Bürger aufgrund der der Revolution 1917 in Sankt Petersburg und anderswo erlitten hatten.
Das kommentiert Bonjour wie folgt (S. 112): «Das alte larmoyante Argument der moralischen Schuld trug nachgerade den Stempel der Befangenheit.» Mit anderen Worten: Moral ist für Bonjour keine Kategorie, um ein Land zu führen. Das wird auch an einer anderen Stelle deutlich, nämlich bei den Söldnern, welche die Eidgenossen trotz ihrer Neutralität über viele Jahrhunderte anderen Staaten zur Verfügung stellten. Bonjours kommentiert (S. 15): «Dass der Solddienst für die überbevölkerte Eidgenossenschaft eine unbedingte wirtschaftliche Notwendigkeit war, übersahen nur die von allgemeinen Prinzipien aus denkende Theologen wie Ulrich Zwingli und über das Seinsollende statt über das Seiende spekulierende Utopisten wie Thomas Morus.»
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Hier zeigt sich, was Bonjour in Bezug auf Nationen für wichtiger hält als Moral: das wirtschaftliche Überleben eines Landes. Oder in den Worten von Bertolt Brecht: «Erst kommt das Fressen, dann die Moral .»
Für die Schweiz spielte fast von Anbeginn des Dreistaatenbundes, also ab dem 13. Jahrhundert, Neutralität eine grosse Rolle, um überhaupt im Ränkespiel der Grossmächte zu bestehen.
Nun könnte man sagen: Die Schweiz ist heute nicht mehr unmittelbar von den Nachbarstaaten bedroht und muss also nicht mehr neutral sein. Soll sie also ihre Stimme in die Weltpolitik einbringen und zusammen mit dem «Wertewesten» auf Moral pochen? Das ist zumindest ein zweischneidiges Schwert. Denn wo immer ein Staatswesen mit Moral argumentiert, ist Vorsicht geboten. Häufig werden damit hegemoniale und wirtschaftliche Absichten – die eigenen oder jene von Dritten – verhüllt. In seinem eingangs genannten Buch schreibt Michael Lüders (S. 119): «Die Historie ist randvoll mit Verbrechern, die Millionen Menschen auf dem Gewissen haben und sich dabei auf eine höhere Moral zu berufen wussten.» So hätten etwa die Konquistadoren mit Gott argumentiert, als sie zur Durchsetzung ihrer kolonialen Interessen die Inkas und Mayas massakrierten. Geben Staaten vor, moralisch zu handeln, verschleiern sie also oft ihre wahren Absichten.
Die neueste Geschichte zeigt: Wo immer die USA in den Krieg zog, bemühte sie schon im Vorfeld moralische Begründungen – die sich allerdings im Nachhinein als Lügen entpuppten: sei es die Brutkasten-Behauptung, die den US-Einmarsch im Kuwait begünstigte, sei es die Massenvernichtungswaffenlügen im Irak. Immer taten die Amerikaner so, als würde es ihnen um die Verteidigung von westlichen Werten wie Humanismus und Demokratie gehen. Dabei wird sie eigentlich getrieben von der Gier auf Bodenschätze sowie dem Anspruch auf globale Hegemonie. Für Lüders hatte diese vorgeschobene Bezugnahme auf «westliche Werte» einen klaren Beginn (S.30): «Erst 1990, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurden Freiheit, Demokratie und Menschenrechte zum Mantra westlicher Werteorientierung – zwar ausschliesslich gegenüber nichtwestlich geneigten Akteuren.» Dementsprechend bleiben rechte Militärdiktaturen in Lateinamerika, die arabischen Golfstaaten oder Israel von Sanktionen verschont.
Die meisten Schweizer Parteien scheinen von den Abgründen, in die sie eine moralisch begründete Staatsdoktrin stürzen kann, wenig zu ahnen. In der Debatte um das Kriegsmaterialgesetz forderten die meisten von ihnen eine Abkehr von der Neutralität und begründen dies mit der moralischen Pflicht, der angegriffenen Ukraine beizustehen, bzw. dem Aggressor Russland zu schaden. Nachfolgend zunächst die Positionen von SP, FDP und den Grünen, am Ende des Beitrags wird die der SVP untersucht werden:
«Die sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates (SiK-N) hat heute einer Motion zugestimmt, welche dem Bundesrat die Möglichkeit gibt, Gesuche zur Wiederausfuhr von Kriegsmaterial an die Ukraine zu bewilligen», lobte die SP Anfang letzten Jahres in einer Medienmitteilung [1]. SP-Co-Präsident Cédric Wermuth stellte in einer Rede [2] fest: «Für diesen Krieg gibt es nur einen Verantwortlichen und das ist Wladimir Putin.»
Die FDP begründet die Aufweichung der Wiederausfuhrverbots von Kriegsmaterial im Februar letzten Jahres ebenfalls pro-ukrainisch [3]: «Die bestehende Regelung im Kriegsmaterialgesetz hindert europäische Länder daran, der Ukraine militärisch zu helfen. Das widerspricht dem Neutralitätsgebot, da indirekt Russland profitiert.» Das Neutralitätsgebot wird hier geradezu ins Absurde verzerrt. Neutral würde ja bedeuten, dass man beide Kriegsparteien gleichbehandelt.
Die Grüne Partei forderte in ihrer «Kriegswaffenexport: Position der Grünen Schweiz» [4]: «Wir dürfen in diesem Krieg (Russland-Ukraine) nicht politisch neutral sein.»
Selbst ein gestandener Geschichtsprofessor wie Jakob Tanner proklamiert im Mai 2023 in der NZZ [5]: «Als Russland am 24. Februar 2022 in flagranter Verletzung des Völkerrechts die Ukraine angriff, sah sich die Schweiz abrupt mit der Frage konfrontiert, ob eine neutrale Haltung nicht auf eine – unbeabsichtigte oder willentliche – Unterstützung des Aggressors hinauslaufe. Nach einer fünftägigen Lernphase schloss sich der Bundesrat deshalb dem EU-Sanktionsregime an. Ein Abseitsstehen wäre von aussen zu Recht als moralisch verwerfliches Profitieren vom Krieg wahrgenommen worden.»
Das Abseitsstehen wurde der Schweiz im Laufe ihrer Geschichte tatsächlich immer wieder vorgeworfen. Es hieß des öfteren, sie würde vom Streit der anderen profitieren. Das kann man ihr freilich vorwerfen – aber gibt es wirklich eine moralisch saubere Linie, die ein Staat verfolgen könnte? Wo sollte denn ein Land stehen, wenn nicht abseits? Moralisten würden sagen: auf der Seite der Moral. Oder: auf der Seite des Unterdrückten. Doch Kriege sind keine abstrakten Schwarzweiss-Gemälde. Wer nicht abseitssteht oder neutral ist, ist Kriegspartei für die eine oder andere Seite. Eine vierte Position gibt es nicht.
Alle Engführungen auf Freund und Feind sind unzulässige Vereinfachungen. Was bei einem Streit zwischen Schulkindern oder Nachbarn gilt, gilt erst recht für Staaten mit ihren unzähligen wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen. Die Frage nach dem Schuldigen führt nicht zur Schlichtung. Ja, und selbst, wenn eine der Parteien wirklich mehr «Schuld» auf sich geladen hätte, so nützt es nichts, wenn Dritte sich auf die andere Seite schlagen. Sie werden damit Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Teil der Friedenslösung zu sein, das wäre moralisch. Teil einer der Kriegsparteien zu werden, sei es mit Waffenlieferungen oder Sanktionen, ist unmoralisch. In dem Sinne ist Neutralität die bessere Moral.
Doch wer im heutigen Diskurs für Friedenslösungen einsteht, gilt als «Putin-Versteher», mithin als unmoralisch. Wie kommt es zu solchen Verdrehungen?
Michael Lüders schreibt von genau solchen moralischen Wertumkehrungen. Er beschreibt, wie sich Hegemonialabsichten durch vorgehängte moralische Verurteilungen kaschieren lassen.
Dabei erweist sich, dass nackte Zahlen und Fakten nicht handlungsorientierend für Menschen oder gar ganze Staatsgebilde sind. So hat sich die in den USA tonangebende Rand-Corporation, ein regierungsnaher Think Tank, [6] lang und breit geäussert, wie sie gedenkt, Russland zu schwächen. Das geht vom Abdrehen des russischen Gashahns für Europa über die Zerstörung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland bis zur Diskreditierung von Russlands Ruf in der Welt. Das alles liegt offen. Trotzdem glauben die Menschen das Ammenmärchen vom «Bösen Russen». Auch im massiv von den Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland betroffenen Deutschland. Handlungsorientierend sind nicht die US-Absichtserklärungen, sonden Gefühle wie Wut, Mitleid, Solidarität oder eben moralische Erhabenheit.
Lüders schreibt dazu(S. 186): «Die von Pathos begleitete Überidentifikation mit dem ukrainischen Präsidenten (…) sind Ausdruck blinder Amerika-Hörigkeit, aber auch eines entfesselten Moralismus. Die Tragik der Deutschen besteht darin, dass sie in ihrer grossen Mehrheit subjektiv davon überzeugt sind, es gäbe tatsächlich eine ‹Wertegemeinschaft› mit den USA, sie seien gar unsere ‹Schutzmacht›.»
In Wirklichkeit leidet kaum ein Land so sehr unter den Wirtschaftssanktionen gegen Russland wie Deutschland. Von Schutz durch die USA kann keine Rede sein, im Gegenteil: Die USA ist der lachende Dritte und zwingt den Deutschen teures, extrem umweltschädigendes Flüssiggas auf.
Auch in der Schweiz wäre Vorsicht gegenüber amerikanischen Ränkespielen und Gelüsten angebracht. 2009 entrissen die USA der Schweiz das Bankgeheimnis. Heute sind die USA das grösste Steuerparadies für Gelder, die nicht deklariert zu werden wünschen. Das schreibt nicht nur der Bankenblog «Insideparadeplatz» [7], sondern auch die Finanzplattform «Finews» [8].
Die einzige Partei, die an der Schweizer Neutralität festhält, ist die SVP. Sie hat denn auch die Neutralitätsinitiative [9] mit angestossen, die jene in der Bundesverfassung verankern möchte. Die junge SVP-Politikerin Emmylou Ziehli Maillard erläutertein einem Referat [10] im November 2023 dazu: «Wir müssen realistisch sein: Bei Konflikten, in denen Grossmächte wie die USA, die EU, die NATO mitmischen, kann die Schweiz das Blatt nicht wenden. Die Schweiz ist zu klein, um den Sieg herbeizuführen. Sie kann jedoch helfen, friedliche Lösungen zu finden.»
In der Tat wurden die «guten Dienste» der Schweiz als Friedensvermittler seit ihrer Annäherung an EU-Positionen in den letzten Jahren weniger nachgefragt. So vermittelt nicht etwa die Schweiz zwischen Israel und der Hamas, sondern Katar [11].
Fazit: Eine neutrale Schweiz der «Guten Dienste», interessiert am Lindern der Kriegsleiden, nicht am Verurteilen der Kriegsparteien – das war lange Zeit, was die Schweiz für die Welt leistete. Es ist Zeit, dass sie sich daran erinnert!
Quellen
[2] https://www.sp-ps.ch/artikel/neutralitaet-muss-freiheit-und-demokratie-schuetzen/
[4] https://gruene.ch/news/kriegswaffenexport-position-der-gruenen
[5] https://www.nzz.ch/meinung/neutralitaetsbewahrer-einst-und-jetzt-ld.1733348
[6] https://www.rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html
[9] https://neutralitaet-ja.ch/
[11] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/nahost-katar-vermittlung-100.html
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