Fundamentale Gefahr für die Rede- und Wissenschaftsfreiheit
Wie und wo sich «woker» Zeitgeist muffig einengend oder geradezu destruktiv durchsetzt, untersucht Prof. Bernd Ahrbeck von der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin (IPU) in seinem neuen Buch «Basteln am Ich. Zu Risiken und Nebenwirkungen grenzenloser Selbstbestimmung».
Der Autor macht deutlich, dass der Kampf gegen Diskriminierung, für Gerechtigkeit und Gleichheit, für die Anerkennung unterschiedlicher Lebensformen und sexueller Identitäten so moralisch einwandfrei er daherkommt, bizarre und unerwünschte «Nebenwirkungen» haben kann. Wissenschaftsfreiheit, aber auch Individualität und Kreativität haben es dann schwer.
Der Begriff «Cancel-Culture» steht für dieses sozio-kulturelle Phänomen, das in der Politik und an den Hochschulen besonders spürbar ist. Ahrbeck sieht darin keinesfalls eine «nicht ernstzunehmende Mode, die schnell wieder vergeht.» Er möchte mit seinem Buch ganz im Gegenteil auf die «fundamentale Gefahr, die von den gegenwärtigen kulturellen und politischen Umbrüchen ausgeht», aufmerksam machen. Es lohnt sich seiner Ansicht nach, für «die kulturellen und politischen Errungenschaften einzutreten, die einst mühsam erkämpft wurden, etwa die Rede- und Wissenschaftsfreiheit» und dafür wieder mehr Achtsamkeit zu entwickeln.
Konformitätsdruck im Wissenschaftsbetrieb
Einfühlsam setzt sich der Psychoanalytiker in seinem aufschlussreichen Buch mit Themen auseinander, die momentan im Trend liegen, und klopft sie auf ihre sozialen und psychologischen Implikationen ab. Er untersucht den «gendersensiblen» Sprachgebrauch, der «von der unerschütterlichen Gewissheit, für das Gute und den gesellschaftlichen Fortschritt einzutreten» geprägt ist.
Wer anders denkt, ist im besten Fall noch nicht so weit, er muss vom Gegenteil überzeugt werden, um seine frauenfeindlichen, rassistischen, homo- und transphoben oder sonst wie störenden Haltungen aufzugeben.
Autoren müssten deshalb bei wissenschaftlichen Publikationen sehr genau prüfen, ob sich jemand aufgrund ihrer Beiträge verletzt, gekränkt oder herabgesetzt fühlen könnte.
Ihre Sprache soll über jeden Diskriminierungsverdacht erhaben sein.
Kommt es trotzdem zu irgendwelchen «Betroffenheiten», kann die berufliche Existenz bedroht sein. Rufschädigungen werden «lustvoll herbeigeführt, Rede- und Publikationsverbote im Namen des unantastbaren Guten gefordert.» Wer an der biologischen Zweigeschlechtlichkeit festhalte, einer wissenschaftlichen Gegebenheit, gehöre mittlerweile in «Feindesland», weiss Ahrbeck.
Es entstehen in diesem Zusammenhang Sprachverzerrungen, die eine Verständigung nahezu unmöglich machen.
Eine Mutter wird zu einer gebärenden Person, breast milk (Muttermilch) zu human milk (Menschenmilch) oder der Milch des stillenden Elternteils, das Stillen (breastfeeding) zu »chestfeeding« (Brustkorb-Füttern).
Unsensibler Umgang mit Transsexualität und Leihmutterschaft
Einen fatalen Biographieverlust erleiden Transsexuelle, wenn ihre Geschlechtsangleichung laut dem neuen Selbstbestimmungsgesetz bei Strafe nicht mehr thematisiert werden darf – mit dem «sanktionsbewehrten Offenbarungsverbot». Dabei stelle die Angleichung an ein anderes Geschlecht «ein lebensgeschichtlich äusserst bedeutsames, die Persönlichkeit stark berührendes Ereignis dar.»
Der Weg zur Transsexualität sei schwierig und verdiene Respekt. Als Psychoanalytiker, der sich mit individuellen Lebensgeschichten befasst, weiss Ahrbeck, wie behutsam Transsexualität eigentlich angegangen werden müsste. Ideologisch aufgeheiztes, kämpferisches Polarisieren und ein Ausklammern entscheidender biographischer Wendepunkte zeigen sich als wenig hilfreich. Bei den oft unsicheren Betroffenen können so Entscheidungen forciert werden, die sie vielleicht im Nachhinein bereuen. Davon zeugen die Lebensgeschichten der Detransitioner, die ihre Geschlechtsangleichung bedauern und wieder rückgängig machen wollen.
Zu hemdsärmelig wird in Internetreklamen auch mit der Leihmutterschaft umgegangen, die besonders die Leihmütter in eine seelische Zwickmühle stösst und ihnen eine verstörende Verdinglichung aufoktroyiert. In Deutschland ist Leihmutterschaft aus guten Gründen gesetzlich nicht erlaubt, lässt sich aber im Ausland realisieren. Der deutsche Gesetzgeber möchte das Kind schützen, denn die «Identitätsbildung könne durch eine Leihmutterschaft erschwert werden, erhebliche seelische Belastungen seien nicht auszuschliessen.» Ahrbeck und warnt vor berechnender Geschäftspragmatik, unmenschlichen Bedingungen und psychischen Belastungen, die sich durch das Expandieren der Reproduktionsmedizin weiter verschärfen.
Klima an den Hochschulen «bedrückend»
Die bedrohte Wissenschaftsfreiheit ist Bernd Ahrbeck ein besonderes Anliegen. Das Klima an den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fakultäten sei «bedrückend». Bestimmte Forschungsthemen würden nicht mehr, nur noch in Teilaspekten oder unter einem eingeschränkten Blickwinkel behandelt.
Bedroht ist all das, was der vermeintlichen Politischen Korrektheit widerspricht, die das subjektive Empfinden zur Leitlinie ihres Handelns erhoben hat.
Dieser restriktiven und diskussionsfeindlichen Entwicklung stellt sich der Autor entgegen und zitiert in seiner tiefgründigen Analyse die ehemalige US-Aussenministerin Condoleezza Rice, die jetzt wieder in Stanford lehrt. Rice stellt sich ebenfalls auf die Seite des offenen Diskurses und ermutigt ihre Studenten: «Sie müssen sich mit Ideen auseinandersetzen, die nicht in ihr Weltbild passen. Verstehen Sie mich richtig – es geht nicht darum, Leute zu beleidigen oder schlecht zu behandeln, aufgrund ihrer Ethnie oder ihrer Religion. Es geht an einer Universität darum, in der Erkenntnis gemeinsam weiterzukommen…»
«Basteln am Ich. Zu Risiken und Nebenwirkungen grenzenloser Selbstbestimmung» (ISBN 978-3-98737-015-1, erscheint im Februar 2024 in der Reihe zu Klampen Essay, 152 Seiten).
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Kommentare
zwei Sachen vermischen verfälscht das Resultat
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mit trans Menschen sprechen, nicht nur über sie
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Anregung aufgreifen
Danke für die Anregung. Als Zeitpunkt-Redakteurin möchte ich gerne ein Gespräch mit einem Transmenschen über dessen Erfahrung führen. Wer daran interessiert ist, bitte melden bei: [email protected]
(Bei der Auswahl des Fotos habe ich nicht an transMenschen gedacht, sondern an die wissenschaftliche Konformität, kann aber nachvollziehen, dass das verletzend wirken kann. Ich werde das in Zukunft sensibler betrachten.)
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