In den Führungsetagen der Schweizer Spitäler fehlt es an sozialer Kompetenz

Mitarbeiter getrauen sich nicht ehrliches Feedback zu geben
Veröffentlicht: 1. Aug 2024 - Zuletzt Aktualisiert: 1. Aug 2024

Professor Eric Lippmann doktorierte in Psychologie und studierte zusätzlich Soziologie. Seit mehr als drei Jahrzehnten arbeitet er als Personal Coach, Supervisor und Führungskräfteentwickler und hat zu seinen beruflichen Themen veröffentlicht. Im Interview mit INFOsperber spricht er über Führungsversagen in der Medizin. Er hatte eine kompetente Pflegedienstleiterin in einem grösseren Spital im Coaching. Einer der Chefärzte versuchte über längere Zeit, sie hinauszuekeln. Irgendwann ging sie. Doch dieser Chefarzt fand heraus, wo sie neu arbeitete und stalkte sie weiterhin.

Ein Vierteljahr später berichtete sie, dass dieser Arzt entlassen worden war. Er hatte an einem Betriebsfest zu viel Alkohol getrunken und war sexuell übergriffig geworden. Er war dann betrunken mit dem Velo schwer verunfallt und ins Spital eingeliefert worden – dummerweise in dasjenige, in dem er selber arbeitete. Dort hiess es, der diensthabende Arzt stehe nicht zur Verfügung. Er selber hätte Dienst gehabt. Das hat dann schliesslich den Ausschlag gegeben, dass man ihm fristlos kündigte. Lippmann dazu: «Diese Geschichte ist schon krass, aber jetzt kommt noch etwas Typisches für das Gesundheitswesen dazu: Nach einem Monat fand er bereits wieder eine neue Stelle, wieder in leitender Position. Ich war ziemlich schockiert, dass so ein Arzt trotz besseren Wissens wieder mit einer Führungsposition betraut wurde. Aus meiner Berufspraxis weiss ich, dass Führungsmängel im ärztlichen Bereich sehr verbreitet sind. Beim zweiten Beispiel ging es um einen Streit im Operationssaal. Es ist ja klar, welche Art «Waffen» da zur Verfügung stehen. Die Ärzte sind mit dem Skalpell aufeinander losgegangen! »

Nur wenn man fachlich top sei, könne man als Arzt eine Führungsposition erreichen, aber meist sei man darauf nicht vorbereitet. Im Studium hätte man es nicht gelernt und es falle schwer einzugestehen, dass man von Führung keine Ahnung habe. Die Machthierarchie in den Spitälern führe ausserdem zu einer verheerenden Angstkultur. Hohe Personal-Fluktuation sei die Folge. Oft mangele es diesen Chefs an Feedback, nicht nur in Spitälern. Je weiter oben die Menschen stünden, desto eher litten sie unter Mangel an Feedback. Viele Mitarbeiter getrauten sich nicht, den oberen Führungskräften ehrliches Feedback zu geben. Strukturelle Änderungen wären nötig. Es müsste möglich sein, dass zum Beispiel jemand in einem Spitalbetrieb ärztlicher Direktor sein kann, aber nicht auch noch die Forschungsabteilung und noch den Lehrbetrieb anführen muss. Und es müssten mehr Ärzte in der Schweiz ausgebildet werden. 


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