Die Schweiz ohne Neutralität – eine nutzlose Nation

Jean-Daniel Ruch über die drei Ebenen der Neutralität
Veröffentlicht: 26. Aug 2024 - Zuletzt Aktualisiert: 26. Aug 2024

(auszugsweise)

Neulich war ich mit Chinesen essen, Vertreter der Regierung. An einem Punkt des Essens wandte sich ein sehr sympathischer Mann, offensichtlich der ranghöchste in dieser hierarchischen Gruppe, an mich und sagte: „Aber wenn ihr nicht mehr neutral seid, was haben wir dann davon, mit euch zu diskutieren? Ihr werdet Luxemburg plus Berge und Uhren werden.“ Ist das der Weg, den wir gehen?

Eine Expertenkommission schlägt vor, sich so weit wie möglich an die NATO anzunähern, einschließlich gemeinsamer Übungen. Der «Blick», immer an vorderster Front dabei, veröffentlichte am Sonntag den von Frau Amherd in Auftrag gegebenen Bericht, wahrscheinlich, damit er ihr und ihrem Umfeld das verrät, was sie sich wünscht. Was daraus hervorgeht, ist der Wille, sich so nah wie möglich an die NATO anzunähern, ohne jedoch den entscheidenden Schritt der Mitgliedschaft zu machen.

Die NATO wird als „Garant der europäischen Sicherheit“ gesehen. Die Schweizer Armee will mit den NATO-Streitkräften vollkommen „interoperabel“ sein, was eine Integration erleichtern soll, falls die Russen an unseren Grenzen auftauchen sollten. Die Wahl der F-35, die mit vielen Zweifeln behaftet ist, folgt der gleichen Logik. Im Grunde genommen sind die Verantwortlichen für unsere Sicherheit der Meinung, dass die Schweiz sich unter den Schutz der USA stellen sollte.

Das Konzept der Neutralität lässt sich in drei Etagen zusammenfassen. Eine erste, rein rechtliche Stufe verbietet gemäß dem Haager Abkommen von 1907, eine Konfliktpartei militärisch zu begünstigen. Daher die Weigerung, Waffen an die Ukraine zu liefern. Vielleicht war es die empörte Reaktion einiger unserer Nachbarn, die Bern dazu veranlasste, sich bei der NATO zu verankern?

Wichtiger ist die Neutralitätspolitik, die der Bundesrat in völliger Unabhängigkeit betreibt. So wurde die Wiederaufnahme der Sanktionen gegen Russland im Februar 2022 an einem Wochenende beschlossen, ohne die eidgenössischen Räte oder sonst jemanden zu konsultieren. Warum konnte man 2022 nicht das tun, was man 2014 getan hat, nämlich nur Maßnahmen ergreifen, um die Umgehung der westlichen Sanktionen gegen Moskau zu verhindern? Niemand hat diese Frage jemals beantwortet. Hinter den Kulissen hieß es: „Oh, wenn ihr wüsstet, wie viel Druck es gibt!“. Wir würden es gerne wissen.

Die dritte Stufe ist die Wahrnehmung der Neutralität durch die Außenwelt. Das ist die wichtigste Dimension, weil sie unseren internationalen Einfluss bestimmt. Wenn die Russen sagen, dass sie unsere Neutralität nicht mehr anerkennen, ist das schon schlimm genug: Als ständiges Mitglied des Sicherheitsrats, als Land mit unerschöpflichen Bodenschätzen und als wichtiges Ziel für Schweizer Investitionen haben wir es hier nicht mit einer vernachlässigbaren Größe zu tun.

Wenn unsere Nachbarn über unsere politischen Schwankungen herziehen, muss man sich ernsthaft Sorgen machen. Am 20. August titelte Le Monde: „Ein explosiver Bericht stellt die historische Neutralität der Schweiz in Frage“. Wird die Schweizer Neutralität für die Russen, Europäer, Amerikaner und nicht zuletzt die Chinesen bald nur noch eine leere Hülle oder eine lächerliche und unbequeme Verrenkung sein?

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