Der Norden bestimmt
Wie sähe die Welt aus, wenn eines Tages nicht mehr «der Norden von oben herab» das Weltgeschehen bestimmen würde? Die Samstagskolumne.
Oben ist der Himmel, unten die Hölle. Oben sitzt der Kopf und überschaut das Ganze. Unten die Füsse, die sehen das nicht, zudem werden sie beim Gehen schmutzig. Deshalb ist Schuhputzer in Indien ein Job für Menschen aus einer niederen Kaste.
Überhaupt «nieder» und «erniedrigen»! Diese Worte zeigen doch ganz klar, dass das Gute oben ist und das Schlechte und Primitive unten. Deshalb muss das Untere, weil es unfähig ist, sich selbst zu steuern, von oben gesteuert werden. Dann kann auch der Schmutz nicht von unten aufsteigen in die höheren Regionen und oberen Etagen, wo wir Europäer wohnen und sich das Saubere, Gute und Bessere befindet. Wir Bewohner des Kontinents, den zu erreichen so viele Afrikaner jedes Jahr bei der Fahrt übers Mittelmeer ihr Leben riskieren – Tausende ertrinken dabei.
Diesem Werteverhältnis entsprechend zeigen unsere Landkarten, dass Europa oben liegt und Afrika unten. Ausserdem ist Europa, mehr noch das einst kolonialistische Westeuropa, viel kleiner als Afrika. Es ist ja auch der Kopf, der da oben auf dem Körper sitzt und diesen steuert, viel kleiner al s der Körper. Passt also auch das. Ein Afrika, das Europa steuern würde? Unvorstellbar.
Wenn dann auch noch die Haut der Europäer heller ist als die der Afrikaner und unser Körper … nun ja, da unten ein bisschen schmutzig ist, wegen der Körperausscheidungen. Aber auch wegen der so schwer zähmbaren vitalen Impulse, die das Christentum uns abzulehnen gelehrt hat. Dann passt auch das: Der helle Kopf steuert den dunklen Körper. Einen Körper, der uns Europäer braucht: unsere Sauberkeit, Weis(s)heit, Hellig-, gar Heiligkeit. Es wurde ja nicht etwa Europa von Afrika aus das Wissen um die Erlösung durch den Gottessohn gebracht, sondern umgekehrt. Teils geschieht das immer noch. (Der aktuelle Priestermangel in Europa könnte diesen Trend allerdings umkehren.)
Lügen haben kurze Beine, sagt man. Auch von Irrtümern wird das behauptet. Manche halten sich jedoch ziemlich lange. Dazu gehören nicht nur die Erschaffung der Welt in sieben Tagen und das Allheilmittel des Aderlasses, sondern auch die Mythen in Bezug auf Europa und den Rest der Welt. Wie etwas der, dass oben gut ist und unten schlecht, und der von der Überlegenheit des Hellen.
Fangen wir doch mal mit den Landkarten an. Warum muss dort Europa immer über Afrika liegen? Eine Umstellung dieser Sehgewohnheit kostet uns zwar erstmal Überwindung, vielleicht so, wie wenn ein Rechtshänder beim Tischtennis oder Schreiben auf einmal dafür seine Linke benutzen muss. Es hilft jedoch beim Erkennen, wie tief Gewohnheiten in uns eingeprägt sein können, gute wie schlechte.
Die G77 sind eine friedliche Gruppierung von 134 Ländern, die nicht der EU oder der OECD angehören. Sie wurden 1960 in Genf gegründet von damals 77 Nationen, die grossenteils gerade das Ende ds Kolonialismus erlebt hatten und sich nun in der Welt mehr Respekt und Mitsprache für den «Globalen Süden» wünschten. Wobei dieser Süden unter den heute 134 Mitgliedern auch eher nördliche Länder wie die Mongolei und China umfasst, und südliche wie Australien und Neu Seeland zum Globalen Norden gerechnet werden. Von der Bevölkerung her repräsentieren sie mehr als 80 % der Menschheit und sind damit die mit Abstand grösste Gruppe innerhalb der Vereinten Nationen.
Der Anspruch der G77 ist, vor allem in der Wirtschaft und bei den Handelsbeziehungen die Interessen des Südens im globalen Kontext zu stärken. Viele dieser Länder waren früher als Kolonien europäischer Ländern deren Rohstoffländer und wurden als solche ausgebeutet. Aber auch andere vergleichsweise arme Länder wie Jugoslawien, Malta, Rumänien und Zypern gehörten ursprünglich mit zu dieser Gruppe. Mit ihrem EU-Beitritt schieden Malta, Rumänien und Zypern jedoch wieder aus, und vom ehemaligen Jugoslawien verblieb nur Bosnien-Herzegowina in der Gruppe. Heut umfassen die G77 fast alle Länder der Erde ausser denen in der EU und der OECD, diesen beiden Clubs der Reichen, für die «die anderen» sich schon von der Namensgebung her «noch in Entwicklung» befinden oder «an der Schwelle» stehen. Entwicklung wohin? Natürlich dorthin, wo die Länder der EU und der OECD «schon» sind.
Wäre die Welt eine Demokratie, wären die G77 eine Fraktion, die sehr viel durchsetzen könnte. Die aktuelle Weltgemeinschaft jedoch wird viel mehr von Minderheitsfraktionen bestimmt wie der NATO, EU und OECD.
Vielleicht kann die Umdrehung der Landkarte der Welt Anstoss geben zu einer Bewusstseinsveränderung, aus der dann eines hoffentlich nicht allzu fernen Tages eine neue, gerechtere Weltordnung entsteht.
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