Wenn die Weckerarmee marschiert
Morgen für Morgen schrillen überall auf der Welt die Wecker. Ihr Lärm ist ohrenbetäubend. Sie rufen zur Pflicht. Und wir gehorchen. Die Kolumne aus dem Podcast «Mitten im Leben».
Manchmal muss auch ich den Tag früh beginnen. Dann erlebe ich, wie es ist, wenn der Wecker überfallartig in meine Träume hereinbricht und mich aus dem Schlaf reisst. Ob er altmodisch und gebieterisch schrillt oder, ein Liedchen pfeifend, schmeichelnd sich digital anschleicht, macht keinen Unterschied. Fordernd tönt er an meinem Ohr und gibt keine Ruhe.
Er ist bloss ein mickriger Wecker, der mich nur wecken kann, weil ich es will. Ich könnte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen bringen und weiterschlafen. Doch er ist stärker als ich. Er hat die Moral und die Ordnung auf seiner Seite. Hinter der Unbeirrbarkeit seines Weckrufs steht die Pflicht, die mich drängt, zu gehorchen und zu tun, was der Wecker will: Aufzustehen.
Weil es mir aber schon mehrmals passiert ist, dass ich mich seinem Ruf entzog, ihn zum Verstummen brachte und flüchtete, zurück in die selige nächtliche Welt, die keine Zeit und keine Materie kennt – weil ich also stärker sein wollte als er, muss ich den kleinen Diktator abends, vor dem ins Bett gehen in die hinterste Ecke des Zimmers verbannen. Am anderen Morgen kann ich seinem grausamen Ruf nur entrinnen, wenn ich mich zwinge, aufzustehen, das weiche, warme, noch immer verlockende Bett zu verlassen und vor dem Wecker zu kapitulieren. Sobald ich stehe, hat er gewonnen.
In der Erfindung des Monstrums, das Wecker heisst, offenbart sich ein weiteres Mal die ganze Tragik des Menschen, der sich seine eigenen Folterwerkzeuge schafft. Morgen für Morgen schrillt die Weckerarmee auf allen Kontinenten zum Angriff. Milliarden auf dieser Welt sind ihr rettungslos ausgeliefert. Vom Wecker im Schlaf überrascht und gepeinigt, stürzen sie sich in die Dusche und in die Kleider. Sie stürzen ihren Kaffee hinunter, stürzen ins Freie, hetzen zur Bahnstation, um in der grauen Dämmerung auf die anderen Opfer der Weckerattacke zu stossen und, einem Strom von Geschlagenen gleich, mit gesenktem Kopf in den Zug zu steigen:
Kann eine solche Demütigung menschlicher Würde Leben genannt werden?
Diese tägliche Selbstgeisselung verläuft natürlich nicht ohne Widerstand. Viele werden ganz einfach krank. Viele wollen morgens um 6, wenn der Wecker ihnen die Unschuld raubt, nur noch sterben. Viele flüchten in psychologische Fehlhandlungen. Sie stellen den Wecker eine Stunde zu spät, ohne dies zu beabsichtigen. Oder sie stellen ihn richtig, erwachen, schalten ihn aus – ohne sich später daran zu erinnern – und schlafen leichtsinnig weiter.
Wieder andere überhören den Wecker. In ihrer Verzweiflung gelingt es ihnen, sich taub zu stellen. Das elektronische Tüten und Tönen an ihrem Ohr verwandelt zwar ihre Träume in albtraumartige Szenen, wo ausserirdische Wesen zu Forschungszwecken ihr Hirn durchbohren. Trotzdem wachen die Erdenbürger nicht auf. Ihr unterbewusstes Sein verweigert sich dem Kommando des Weckers.
Die meisten Zeitgenossen jedoch spüren den Schmerz schon lange nicht mehr. Sie beugen sich dem kleinen Diktator so widerspruchslos, als hätten sie Angst vor ihm. Seine Herrschaft finden sie nötig und sinnvoll und sie ermahnen auch ihre Kinder, dem Appell des Weckers Folge zu leisten. Er meint es nur gut mit uns! Er will nicht, dass wir verschlafen! Über den Toren sämtlicher Schulen, Büros, Fabriken und was der Pforten zum Alltag mehr sind, schwebt der Spruch von der Morgenstund mit dem Gold im Mund.
Aber hat sie wirklich noch Gold im Mund, wie zu den Zeiten, als es noch kein elektrisches Licht gab? Als die Menschen noch die Gewohnheit hatten, mit den Hühnern ins Bett zu gehen? Heute fühlt sich die Morgenstund nicht so gut an – weil es am Abend vorher wieder mal später wurde. Weil die Hände am Laptop wieder mal kleben blieben. Weil der Magen Delikatessen verdauen musste, die kein Magen um Mitternacht noch verdauen mag. Heute hat die Morgenstund eher Mundgeruch.
Wir wollen arbeiten, damit es uns gut geht. Deshalb stehen wir ganz früh auf und leisten ganz viel. Aber eigentlich, wenn wir ehrlich sind, hätten wir nichts dagegen, schlafen zu können, bis wir ganz von selber erwachen. Eigentlich würden wir gerne die Träume der Nacht zu Ende träumen. Eigentlich würden wir jetzt, wo der Winter naht, am liebsten erst dann aufstehen, wenn das Tageslicht durch die Ritzen dringt. Warum tun wir es nicht? Warum lassen wir es geschehen, dass unser Tag mit einem Befehl beginnt?
Nicht die Pflicht soll uns rufen am Morgen, sondern die Freiheit. Ich träume von einem Leben, wo wir keine Wecker mehr brauchen. Und ich träume diesen Traum nicht in der Nacht.
Vom Autor soeben erschienen:«Orwells Einsamkeit - sein Leben, ‚1984‘ und mein Weg zu einem persönlichen Denken», lindtbooks 380 Seiten, broschiert. Erhältlich im Buchhandel - zum Beispiel bei Ex Libris oder Orell Füssli
Alle weiteren Informationen: www.nicolaslindt.ch
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