Sterbeamme: Vom Tod für das Leben lernen
Sterbeammen begleiten Sterbende auf dem letzten Weg. Ein Gespräch mit Claudia Cardinal, die Menschen für diese Aufgabe ausbildet.
«Ich habe immer Bonbons parat, wenn ich mit Sterbenden und Angehörigen spreche», erzählt Claudia Cardinal. «Mit ihrer Hilfe konnte ich meiner kleinen Enkelin anschaulich erklären, was eine Beerdigung ist: ‚Der Drops ist gelutscht‘, das bedeutet, dieses Leben ist vorbei. Was übrig bleibt, ist nur das leere Bonbonpapier. Das ist es, was begraben wird: nur die Hülle, nicht die Oma.»
Die Hamburgerin weiss, dass der Abschied von eben dieser Hülle unendlich schmerzhaft sein kann. Ihre Tochter starb als kleines Kind an Leukämie, was Claudias Leben auf einen völlig neuen Weg führte. Die Goldschmiedin absolvierte Ausbildungen zur Heilpraktikerin, in traditioneller Heilkunde sowie in Symbolsprache und arbeitete als Sterbe- und Trauerbegleiterin. 2001 gründete sie eine Akademie für Sterbeammen und Sterbegefährten, in der sie vermittelt, wie man einen Menschen im Sterben unterstützen kann. Wenn der Tod anklopft, merkt man erst, dass unser ganzes Leben eine Vorbereitung aufs Sterben ist, so die Sterbeamme. «Eine Frau auf dem Sterbebett sagte mir: «Ich muss nichts mehr in diesem Leben tun – ausser sterben.» Eine andere jenseits der 80 kam zu ihr – nicht, weil sie krank war, sondern weil sie so grosse Angst vor dem Tod hatte und sich deshalb rechtzeitig darauf vorbereiten wollte.
In diesen Situationen wünscht man sich einen Menschen wie die «Mutter der Sterbeammen» an der Seite: einfühlsam, aber nicht sentimental; mitfühlend, aber nie mitleidig; tief und präsent. Als wichtigsten Unterschied zwischen ihrer Arbeit und dem Hospiz nennt sie, dass die dort Arbeitenden in der Regel in pflegenden Berufen ausgebildet sind.
«Diese Menschen haben keine Werkzeuge für die Ängste der Sterbenden oder ihre Fragen. Angst wird mit Medikamenten abgedeckelt.» Einer der Sterbegefährten, die sie ausbildete, brachte es einmal auf den Punkt: «Die Pflege an sich ist nicht die Herausforderung – es sind die Fragen, mit denen wir konfrontiert werden.»
Claudia Cardinal bildet nicht nur aus, sondern führt als Dozentin, Buchautorin und Multiplikatorin auch einen Kampf: gegen die Ohnmacht und Sprachlosigkeit, die wir gegenüber dem Tod haben. Sie verweist im Gespräch auf die Skulpturenreihe «Totentanz» der Münchner Künstlerin Angela Eberhardt, die sie sehr beeindruckt. Eine dieser Skulpturen bildet den Tod als Gerippe ab, wie er auf einem grossen Ei sitzt. «Das finde ich grossartig! Dieses Bild fragt: «Wann fängt das Sterben an?» Die Antwort der Sterbeamme: «Mit dem ersten Atemzug.»
Zeitpunkt: Wie kamst du eigentlich auf den schönen Begriff der «Sterbeamme»?
Claudia Cardinal: Ich habe einmal einen Artikel für eine Hebammen-Zeitschrift geschrieben und hinterher mit einer Freundin über einen Namen geredet. Und «Amme» fanden wir beide sehr passend. Eine Amme nährt, wenn körperlicher Hunger da ist. Eine Sterbeamme stillt den Hunger nach Antworten. Ganz an Anfang wurde ich gefragt: «Und wie nennen wir dann einen Mann, der diese Arbeit machen will?» Und ich sagte: «Das überlege ich, wenn sich einer anmeldet. Nach wie vor stellen bei meiner Ausbildung die Frauen mit 94 Prozent den Löwenanteil. Nur 6 Prozent sind Männer.
Es gibt zwei Dinge im Leben, die wir mit Sicherheit wissen: Irgendwann sind wir geboren worden und irgendwann werden wir sterben. Wie können wir leben, wenn wir uns nicht mit dem Tod auseinandersetzen?
Als ich 8, 9 Jahre alt war, konnte ich bis 100 rechnen und hab mir ausgerechnet, wie alt ich im Jahr 2000 wäre. Da wäre ich 45 – fast schon tot! Da dachte ich, wie unfassbar lange hin es ist. Und wann würde ich sterben? Wahrscheinlich, wenn ich uralt bin, 55 Jahre. Das ist so weit weg, das passiert nie! In diesem Alter kann man noch unsterblich spielen, kann sorglos leben, weil die Endlichkeit unfassbar weit weg ist. Und gleichzeitig glaube ich, dass wir nie mehr über das Leben lernen, als wenn wir uns mit dem Tod beschäftigen. Ich glaube nicht, dass der Tod das Ende des Lebens ist. Er ist die Krönung.
Haben Kinder Angst vor dem Tod?
Ich habe immer wieder Kinder erlebt, die gesagt haben: Ich will gar nicht leben. Die haben mir beigebracht, dass ein Leben auch mit zwei Jahren vollendet sein kann. Für mich die einzige Erklärung, was auch den plötzlichen Kindestod angeht. Ein Konzept wie die Wiedergeburt setzt ganz andere Sachen frei. Die Gemeinschaften, wo sie obligatorisch ist, ist sie eine Qual, da will man aus diesem endlosen Rad raus. Ich glaube, wir haben etwas mit unserem Leben und unserem Sterben zu tun. Ich habe viele Jahre anthrosophisch gearbeitet, wo es heisst: alle 500 Jahre wirst du wiedergeboren. Ich habe einmal das Buch «Das Orangenmädchen» von Jostein Gaarder gelesen. Ein Vater, der gestorben ist, stellt dem Sohn die Frage. «Stell dir vor, du hättest vor 10.000 Jahren von den Sternen geschaut und dich gefragt, ob du Lust hättest, auf diesen blauen Ball einmal runterzugehen. Deine Antwort ist für mich sehr wichtig – denn sie verrät mir, ob du zu deinem eigenen Leben ja oder nein sagst.» Das ist eine so schöne Frage.
Wenn man an Wiedergeburt glaubt, glaubt man an eine höhere kosmische Ordnung. Wer nicht in irgendeiner Form an eine solche glaubt, tut sich mit dem Tod schwer – ist das auch deine Erfahrung?
Wir sind ja eine seltsame Anhäufung von Menschen. Ich komme immer mehr dahinter, dass ich sage: Das ist das Wesen des Materialismus, das immer mehr haben will. Ich war vor Jahren in einer Shopping Mall, wo ich feststellte, dass es nur einen einzigen Laden gab, wo es etwas zum Selbermachen gab. Das war ein Zeitschriftenladen – denn lesen musst du immer noch selbst. Wir sind eine aufgeklärte, materialistische, atheistische, sinnfreie Klugscheissergesellschaft. Weniger «Monokultur» in sämtlichen Bereichen würde uns guttun.
Wie wäre der ideale Umgang mit Sterben und Tod?
Ich sehe, dass sich aktuell ganz leicht etwas verändert. Aber es ist immer noch ein grosses Tabu. Meine Enkelin war vier, als sie mich unvermittelt fragte: «Sag mal, Oma, was machst du eigentlich, wenn du tot bist?» Was für eine grossartige Frage! Die stellen wir nicht als Erwachsene. Es passiert immer noch, dass jemand mit einer Schwerstdiagnose im Krankenhaus liegt und die Leute sagen: «Ach was, du stirbst doch jetzt nicht.» Das ist die Sache, dass wir diese Frage nicht stellen. Wenn jemand austherapiert ist, wird er nach Hause geschickt, um die letzten Fragen zu klären. Damit werden sie allein in diesen Horror geschmissen. Ich finde: die letzten Fragen müssen die ersten sein: Dann könnten wir ganz anders leben.
Welches sind diese Fragen?
«Bin ich einverstanden mit mir? Mit meinem Leben? Wo geh ich denn hin? Gibt es da etwas? Bereue ich etwas?» Eine Frau, die ich begleitete, zwang mich, meine Arbeit auf den Punkt zu bringen, indem sie fragte: «Was kannst du jetzt für mich tun?» Und ich antwortete: «Ich kann dir eine Unterstützung dafür geben, dein Leben in eine Abrundung zu bringen. Ich kann dich darin unterstützen, den Abschied von deinen Lieben zu gestalten, statt ihn nur abzuwarten. Und ich kann dir Unterstützung geben bei allen «Monstern», die jetzt auftauchen und dir Angst machen wollen. Und das vierte: Du brauchst Reisevorbereitungen. Du weisst ja nicht, wo du jetzt hinkommst – und es wäre hilfreich, keine Flipflops einzupacken, wenn du in die Arktis kommst.» Diese vier Punkte machen für mich eine Abschiedsbegleitung aus.
Kommt es oft vor, dass Menschen am Ende des Lebens Sachen bedauern und mit den Dingen hadern?
Auf jeden Fall. Es gibt eine nette Analogie: Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes. Und wir wissen, was uns am Schlaf hindert: Enttäuschungen, die wir eingefangen und Enttäuschungen, die wir ausgeteilt haben. Genau diese Dinge hindern uns auch am Sterben. Deshalb halte ich es für ausgesprochen gut, jedes ausgeliehene Buch rechtzeitig zurückzugeben.
Gibt es Leute, die sich auf dem Sterbebett noch versöhnen?
Menschen am Ende ihres Lebens brauchen oft Unterstützung. Eine Frau hat nur noch eine Sache gesagt: «Ich bin fertig. Vielen Dank, auf Wiedersehen». Sie hat alles für sich alleine «durchgeschmurgelt». Eine andere habe ich drei Jahre lang begleitet, die letzte Woche davon war sie im Hospiz. Sie war immer noch richtig aktiv, hat sich entsprechend auf ihren Tod vorbereitet, und dann sagte sie zu mir: «Ich hab alles geschafft, was ich mir vorgenommen habe.»
Meine schwäbische Mutter kann wunderbar mit Sterbenden umgehen. Sie ist auf einem Dorf grossgeworden, wo der Umgang mit dem Tod noch selbstverständlich war.
Kennst du die nette Geschichte vom «Moschtkriagle»? Eine Frau, die alleine in einem Haus lebt, stirbt. Da kommen zwei Wanderer vorbei und halten Totenwache, denn man lässt einen toten Menschen nicht allein. Dabei holen sie sich immer ein wenig Most aus dem Keller – und schliesslich nehmen sie die Tote mit dorthin, weil sie keine Lust haben, immer Treppen zu laufen. Köstlich! Das ist für mich Schwaben pur.
Als Papst Johannes Paul II gestorben ist, gab es Public Viewing in Rom, eine Aufbahrung seiner Leiche, wozu Millionen gekommen sind. Ich habe diese Leute ein bisschen im Verdacht gehabt, dass sie da vorbeikommen, um endlich mal einen Toten zu sehen.
Was hast du durch deine Arbeit als Sterbeamme für dein eigenes Leben mitgenommen?
Was für eine schöne Frage! Ich guck mich im Spiegel und und frage, ob ich mit mir einverstanden bin. Und sage: Ja! Ich habe für mich in den letzten Jahrzehnten gelernt, dass ich der Mittelpunkt meines Lebens bin. Im Grossen und Ganzen finde ich mich in Ordnung und schaffe es ohne Probleme, mir selbst zuzuprosten und zu sagen: Passt schon! Wenn ich mir diese Welt anschaue, denke ich mir oft: Wo wollen wir eigentlich hin? Ich glaube, wir wissen das einfach nicht. Es gibt ein paar Momente im Leben, wo die Unsterblichkeit mit aller Wucht einkracht, bei einem Todesfall in der Umgebung oder bei einer lebensbedrohlichen Diagnose. Ich habe öfters erlebt bei Frauen, wenn sie ihre Kinder das erste Mal in Händen halten, dass sie wissen: Das ist so kostbar, wenn da etwas passiert, bin ich weg. Und ich weiss um die Kostbarkeit des Moments, des alltäglichen Lebens – das Wunder, das zu tun, was für die meisten ganz normal ist. In dem Moment des Abschiednehmens aber ist es wertvoll und kostbar.
Du begleitest Menschen aus den unterschiedlichsten religiösen und weltanschaulichen Kontexten. Ist das schwer?
Ich habe häufiger erlebt, dass Gläubige mit Gott gehadert haben oder dass sie gar kein Weltbild haben und glauben, nach dem letzten Atemzug erwartet sie das grosse Nichts. Aber sie wollen trotzdem Gespräche führen, und das ist hochgradig spannend. Das, was wirklich alle verbindet, ist Freude und Schmerz, egal in welchem kulturellen, nationalen, religiösen oder sonstigem Kontext. Eine Buddhistin wird genauso leiden, wenn sie ihr totes Kind in den Armen hält, wie eine Christin. Und wenn wir verliebt sind, ist es ebenfalls über alle Geschlechter, Hautfarben, Nationen und Religionen das gleiche schöne Gefühl. Es geht für mich bei der Sterbebegleitung darum: Ist jemand bereit, zuzulassen, dass es etwas gibt, das grösser ist als unsere Nase? Wie der Gott jeweils heisst, kümmert mich nicht.
Liebe Claudia, wir bedanken uns für dieses Gespräch!
Inspiration & Information:
Homepage von Claudia Cardinal: sterbeamme.de/
Homepage der Künstlerin Angela Eberhard: www.figurenwerk.com
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