Der Anfang vom Ende einer Ära

Die «Occupy»-Proteste der letzten Wochen sind noch zu klein, um die Welt zu ändern. Aber sie könnten der Anfang von etwas sein, worauf viele Menschen schon seit Jahren warten. (Roland Rottenfußer)

„Stuttgart 21“ war nur eine Fingerübung, die Anti-Atom-Proteste nur ein Vorspiel im Vergleich zu dem, was jetzt kommen könnte – und was kommen muss, wollen wir nicht zulassen, dass Spekulanten, Bankster und deren Bauchrednerpuppen aus der Politik die Welt gegen die Wand fahren. Worauf es jetzt ankommt, ist den historischen Moment nicht (wie 2008) zu verpassen, dranzubleiben, das Feuer zu schüren. Es könnte die letzte Chance auf einen Spiel entscheidenden Aufstand sein, der noch vor dem großen Finanzcrash stattfindet.



Sogar Sigmar Gabriel sagt es: Mit den weltweiten Protestkundgebungen vom 15. Oktober erlebten wir das „Ende einer Epoche“. Nun ist der Vorsitzende einer Partei, bei der schon die Bezeichnung „sozialdemokratisch“ eine Lüge ist, kein glaubwürdiger Zeuge. Die deutsche New Labour-Generation um Schröder, Gabriel und die beiden „Stones“ taugt im besten Fall dazu, die Ausplünderung durch Abmilderung ihrer sozialen Folgen zu verewigen. Obwohl die Zeit nach einer kreativ-rebellischen Figur schreit, wie es Lafontaine in den 80ern war, hat die „Sozialdemokratie“ seither nicht die Kraft gefunden, eine solche hervorzubringen. Stattdessen will sie uns allen Ernstes zur Wahl 2013 einen der Namen präsentieren, die aufs engste mit Hartz IV und den „Bankenrettungen“ verbunden sind. Die Zukunft der etablierten Parteien strömt schon jetzt den Modergeruch der Vergangenheit aus. Sieht man Fotos der Parteigranden, so fühlt man sich an jene von der 40-Jahr-Feier der DDR (1988) erinnert: Die gleiche groteske Versteifung auf die alten Phrasen, die gleiche konsequente Verdrängung der Realität, in der längst vieles auf das nahende Ende des „Ancien Regime“ hindeutet.



Für Jubel ist es jedoch zu früh. Ich erinnere mich noch gut an Anfang 2009. Ich besuchte eine ziemlich große Demonstration auf dem Frankfurter Römer: „Wir zahlen nicht für eure Krise“. Die Redner spuckten große Töne und versprachen, dies sei nur der Anfang einer großen Bewegung. Die Demo glich allerdings eher einem Rohrkrepierer als einem Schneeball, der sich zur Lawine auszuwachsen versprach. Über Jahre geschah auf dem Sektor Soziales und Finanzen: nichts. Dennoch bin ich bei der aktuellen Bewegung vorsichtig optimistisch. Sie ist eingebettet in einen Kontext, der für Proteste derzeit ein günstiges „Klima“ schafft. Die Stuttgart 21-Proteste mit Schwerpunkt im Herbst 2010, die Aufstände in den arabischen Ländern, das Wiederaufflammen der Anti-Atombewegung, die Demonstrationen in Israel, Spanien und Großbritannien – und nun als vielleicht bedeutsamster Vorgang die Bewegung „Occupy Wall Street“ in den USA. Es sieht nach einem Flächenbrand mit eskalierender Dynamik aus.



Die Latenzphase der Revolution ist vorbei



Gerade die „Occupy“-Bewegung, ist etwas, worauf ich lange gewartet habe. Ich versuchte sie mit der geringen, mir zur Verfügung stehenden publizistischen Reichweite geradezu „herbei zu schreiben“. Das wenige, was sich zeigte, habe ich immer unterstützt: Anti-Nazi-Demonstrationen in Dresden, Stuttgart 21-Proteste, Atom-Proteste. Merkwürdig erschien mir nur, dass sich gerade im Kernbereich der Weltmisere nichts tat: Proteste gegen die Finanz- und Konzernelite, gegen wachsende Ausplünderung und Sozialdumping, gegen die Aushöhlung der Demokratie durch ein gnadenloses System angeblicher Sachzwängen – Fehlanzeige! Warum hat ein eigentlich regionales Problem wie der Stuttgarter Bahnhof und der immer noch unwahrscheinliche Atom-Supergau mehr Leute bewegt als der sehr wahrscheinliche, alle betreffende Kollaps des Finanzsystems und die seit Jahrzehnten eskalierende soziale Schieflage? Was auch immer die Gründe sind, die diesbezüglich „dunkle Epoche“, die Latenzphase der globalen Revolution, scheint jetzt vorbei zu sein.



Wir sollten uns davor hüten, anzunehmen, wir hätten schon so gut wie gewonnen. Weder ist das „Wir“ ausreichend definiert, noch gibt es gut ausformulierte Ziele und Strategien, auf die sich alle ähnlich Denkenden einigen können. Was ich jedoch registriere, ist eine allmähliche Verschiebung des Zeitgeists. In allfälligen Talkshows, etwa am 13. Oktober bei Illner, kommen streng neoliberal Denkende zunehmend in Erklärungsnot. Eine Spekulationssteuer und die Trennung zwischen „Kerngeschäft“ und „Investmentgeschäft“ bei Banken sind fast schon Standardforderungen in den Medien (z.B. unlängst im „Stern“). Und nun fordert der Chef der vermutlichen nächsten Kanzlerpartei die „Zerschlagung der Banken“. Frank Schirrmacher schrieb in der neoliberalen FAZ: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat.“ All das ist noch zu wenig bzw. es ist aus dem Mund bestimmter Akteuren nicht glaubwürdig – aber interessant ist es allemal. Ebenso wie der Aufstieg der „Piratenpartei“, die den Unmut in Teilen der technikbegeisterten Jugend bündelt. Der Ausbau des Überwachungsstaats wird es ab jetzt schwerer haben, denn die Altparteien müssen fürchten, die Jugend und damit ihre Zukunft an die Piraten zu verlieren.



Heuchlerisches Lob von der falschen Seite



Eine Kehrtwende in der Finanz- und Sozialpolitik könnte nach dem Muster der Wendehalspolitik beim Thema „Atom“ (unmittelbar nach der Katastrophe von Fukushima) ablaufen: Politiker und Medien übernehmen Forderungen der Protestbewegung, so als ob sie diese selbst erfunden hätten. Sie denken gar nicht daran, sich für ihre langjährige Komplizenschaft bei der Etablierung des Turbokapitalismus zu entschuldigen. Manche besonders Eifrige wandeln sich schlagartig vom Sünder zum Heiligen, ohne Umweg über den Büßer. Dabei geht es mir nicht nur darum, ob dieser Sinneswandel „ehrlich ist“ (wahrscheinlich nicht). Vielmehr darum, dass sich bisherige Handlanger und Hofberichterstatter der Finanzelite geradezu gezwungen sehen, sich an die Protestbewegung anzuschmiegen – wollen sie sich nicht zu weit von der Stimmung in einem Volk entfernen, das sie immer noch brauchen: als Wähler bzw. als Leser. Ein gescheitertes politisches Konzept neigt sich dem Ende zu, wenn seine Protagonisten beginnen, Einsicht zu heucheln. Und ich vermute stark, dass es Politiker gibt, denen es selbst auf die Nerven geht, von den Bankern am Gängelband herumgeführt zu werden. Die lechzen vielleicht nach Befreiung. Mit dem Rückenwind einer starken, kritischen Zivilgesellschaft könnten sie ihre verlorene Würde wiedererlangen.



Worum es jetzt geht, ist, sich nicht mit einem halbherzigen, unglaubwürdigen „Zurückrudern“ der Altparteien zu begnügen und die Proteste unbeirrt auszuweiten. Natürlich wollen alle, die sich aus etablierten Kreisen zu diesem Thema äußern, den Kapitalismus bewahren, indem sie kleinere, eher symbolische Modifikationen an ihm vornehmen. Einem solchen Manöver dürfen wir nicht aufsitzen. Die Sklaverei (etwa in den USA) ist im historischen Rückblick etwas, das restlos von der Landkarte der Welt getilgt werden musste. Niemand hätte heute noch Verständnis, würde man die Einkünfte von Sklavenhaltern nur mit 0,05 Prozent besteuern, um mit den Geldern die Wohnsituation der Sklaven zu verbessern. Sklaverei ist ein Verbrechen, keine politische Option. Bestimmte Börsen- und Bankengeschäfte sind der Versuch, die Völker durch Aneignung eines immer größeren Anteils ihrer Arbeitserträge de facto zu versklaven. Das schließt nicht aus, dass man vielen von uns gnädigerweise noch recht komfortable „Onkel-Toms-Hütten“ lässt. Zumindest in Westeuropa. Zumindest noch



Die Börse - eine moderne Bastille



Die Wall Street, und in Deutschland die Frankfurter Börse, sind die zentralen Symbole der Misere. Damit kann man sie in ihrer Symbolkraft mit der Bastille oder der Stasi-Zentrale in der DDR vergleichen. Man kann die Börse, wie die Sklaverei, nicht reformieren. Man muss sie schließen – restlos und für immer. Und damit meine ich nicht nur bestimmte Gebäude. Wie man während eines Bombenalarms in der Frankfurter Börse am 5. Oktober gesehen hat, gehen die Geschäft auch dann munter weiter, wenn das Gebäude nicht zugänglich ist. Dazu sind nur ein paar Computer nötig – und Köpfe, die unaufhörlich über ihre eigene Bereicherung nachsinnen. Ich rede – um das Beispiel „Bastille“ zu relativieren – keinem Vandalismus und schon gar keiner Gewalt gegen Menschen das Wort. Diese Schande wollen wir getrost der Polizei überlassen, die es sicher in der Übergangsphase nicht unterlassen wird, auf Menschen einzuprügeln, die sich ja auch für deren Wohl (das der Polizisten) einsetzen. Aber ich träume davon, die Wall Street und vergleichbare Einrichtungen zu Mahnmalen für die Opfer des Kapitalismus umzugestalten. Künftige Generationen sollen mit Abscheu durch die Börsenräume wandeln, in denen Hungersnöte, Umweltzerstörung, die Arbeitsbedingungen in Sweatshops und andere Folgen des Turbokapitalismus dokumentiert sind.



Warum eignet sich die Börse am besten als symbolisches Angriffsziel von Protesten? Banken haben noch einen rationalen Kern: Der Idee nach sollen sie der Realwirtschaft Geld zur Verfügung stellen, das sie von Anlegern, die es vorübergehend entbehren können, eingesammelt haben. So weit, so gut. Dass dieses Prinzip gerade in investmentorientierten Großbanken wie Deutsche Bank und Commerzbank mittlerweile pervertiert wurde, ist allen klar. Der Börse wohnt dagegen nicht einmal ein rationaler, legitimer Kern inne. Sie dient allein dem Ziel leistungslose Einkommen zu erzielen, indem mit Geld Geld gemacht wird. Da Geld nicht wirklich „arbeiten“ kann, stehen den leistungslosen Einkommen der Abzocker entsprechende einkommenslose Leistungen der Systemverlierer gegenüber. Auch wenn der Arbeitende ein Einkommen bezieht, ist das quasi nur noch der Restbetrag, den ihm Zocker gnädigerweise zugestehen, damit er weiter bei Kräften und damit ausbeutbar bleibt.



Mörder im Maßanzug



Dem Börsengeschäft liegt die Annahme zugrunde, man müsse nicht selbst durch Arbeit für seinen Lebensunterhalt sorgen, sondern dürfe sich ohne schlechtes Gewissen von anderen versorgen lassen. Diese Haltung ist bei Kleinkindern legitim, die alles, was sie zum Leben brauchen, von ihren arbeitenden Eltern geschenkt bekommen. Wer dies auch im Erwachsenenalter noch für sich in Anspruch nimmt, ist eigentlich auf eine infantile Stufe regrediert. Dieser „oral-rezeptive Charakter“ (Erich Fromm) versteckt sich bei Börsianern jedoch hinter einer sachlich-vernünftelnden Maske und bedient sich struktureller Gewalt, um seine Pläne durchzusetzen. Nicht jeden kleinen Aktienbesitzer sollte man mit wüsten Beschimpfungen überziehen. Wer jedoch mit Lebensmitteln spekuliert und damit die Preise in für Arme unbezahlbare Höhen treibt, ist ein Mörder im Maßanzug, ein Bildschirmtäter ohne Gewissen. Eine Protestbewegung muss den Tätern, auch wenn sie im legalen Raum handeln, ihre Abscheu ohne falsche Milde vor Augen führen. Es muss breiter Konsens werden, dass das Börsengeschäft und die Spekulation keine anständigen oder „coolen“, sondern gemeinschaftsschädliche Berufe sind. Die Betreffenden sollten sich nach Absolvieren einer Therapie auf einen ehrlichen Beruf umschulen lassen.



Wichtig ist zu wissen: Es geht nicht um ein paar Euro weniger für „uns“ und ein paar mehr für „die“. Es geht ums Ganze: um unseren relativen Wohlstand, um Gerechtigkeit, um Freiheit und Demokratie. Für viele in der Dritten Welt geht es schon lange um Leben oder Tod. Die Perversion des derzeitigen ökonomischen Denkens charakterisiert der Sachbuchautor Jens Wernicke treffend: „Das Gewicht des jeweiligen Kapitals gilt nicht mehr als Gefahr für die Demokratie, sondern umgekehrt die Demokratie als Gefahr für die Freiheit des agierenden Kapitals“. So genannte Volksvertreter sehen heute Hauptaufgabe darin, die „Märkte zu beruhigen“. Ein unruhiges Volk stört dagegen nur wenig beim Regieren. Wir erleben derzeit einen merkwürdigen Maskentanz an Bord der Titanic. Politiker versuchen schon gar nicht mehr ernsthaft, uns ihre Politik als legitim zu verkaufen. Das Totschlagargument „alternativlos“ scheint alle ethischen Fragen gegenstandslos zu machen. Die unausgesprochene Botschaft der politischen Elite lautet: „Ihr wisst, dass wir nicht vertrauenswürdig sind. Und wir wissen, dass ihr es wisst. Vorläufig wird euch aber gar nichts anderes übrig bleiben, als hinzunehmen, was wir für euch beschließen. Das hier ist Demokratie, und wir wurden vor Jahren von der Mehrheit gewählt, also haltet den Mund!“



Männer oder Schläger: Polizei am Scheideweg



Diese Selbstgewissheit angesichts eines machtlosen, trägen Volkes zerbröckelt derzeit. Es ist zu erwarten, dass man versuchen wird, zunächst die Waffen der Repression zu schärfen, um das aus dem Ruder laufende Weltgeschehen noch einmal kontrollieren zu können. Vieles wird davon abhängen, ob sich die Polizei willfährig zum Büttel eines Systems machen lässt, an das viele Polizisten schon selbst nicht mehr glauben. Werden sie unbegrenzt bereit sein, auf Befehl ihren protestierenden Mitbürgern körperliche Schmerzen zuzufügen – Menschen, die auch für sie auf die Straße gehen? In Anlehnung an die Schlussszene aus „Schindlers Liste“ muss man den Polizisten heute zurufen: Wollt ihr nach dem Demo-Einsatz als Männer zu euren Familien nach Hause gehen oder als Schläger? Wollt ihr wirklich, dass euer Tagwerk blutende Köpfe, verletzte Augen und vor Schmerzen schreiende Frauen sind, wie man sie auf Bildern von den Wall Street-Protesten sehen kann?



Noch mal also die Frage: Warum gerade die Wall Street oder die Börse in anderen Städten besetzen? Der engagierte US-amerikanische Liedermacher David Rovics sagte es in einem brandaktuellen Lied (hier ins Deutsche übersetzt):


„Weil es dort ist, wo man die Politiker kauft,


Weil es dort ist, wo die Macht ihren Sitz hat,


Weil 99 Prozent von uns leiden


Und der Gnade der Verrückten in dieser Straße ausgeliefert sind.“



Vorsicht „Schock-Strategie“!



Ich rufe alle auf, mitzumachen und den historischen Moment nicht wieder verstreichen zu lassen. Die Zeit ist zu fortgeschritten, als dass Menschen, die verstanden haben, noch zögern dürften. Und bei allem berechtigten Optimismus angesichts der Bilder von Protestierenden aus aller Welt: Es ist äußerste Vorsicht geboten, denn eine zunehmend chaotischer werdende Dynamik endet nicht „automatisch“ mit dem Sieg der antikapitalistischen Kräfte. Es gibt auch das Phänomen, das Naomi Klein „Schock-Strategie“ genannt hat. Die Bestseller-Autorin („No Logo“) sagte vor wenigen Tagen auf einer „Occupy Wall Street“-Demonstrationen: „Wenn die Menschen in Panik geraten und verzweifelt sind und niemand zu wissen scheint, was zu tun ist, ist das die ideale Zeit, um ihre Wunschliste der konzernfreundlichen Politik durchzudrücken: Privatisierung von Bildung und von Sozialversicherung, Kürzung öffentlicher Dienstleistungen, die Abschaffung der letzten Beschränkungen für die Macht der Konzerne. Mitten in der Wirtschaftskrise geschieht dies auf der ganzen Welt.“



Wenn wir all dies berücksichtigen, wenn wir vorsichtig und mutig, strategisch klug und hartnäckig zugleich sind, dann wird der Herbst 2011 zwar sicher nicht das Ende des Kapitalismus bedeuten – vielleicht aber der Anfang vom Ende einer Ära.





20. Oktober 2011
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