Alles muss man selber machen

Der ‹ganze Mensch› entsteht leider nicht von alleine

Wir sind weder Robinson Crusoes noch elternlose Kinder in einem wilden Tal, sondern Bewohner einer Zivilisation, die alles hat und uns Menschen immer weniger braucht. Auf unsere Kaufkraft aber nicht verzichten kann. Wohl auch deshalb wächst seit einiger Zeit die Lust aufs Selbermachen. Es gibt Schuhmacher, die uns helfen, unseren «Eigenschuh» zu bauen, Tischler, die uns Autodidakten dabei beraten, das Eigenmöbel zu bauen. Und das Münchner «Haus der Eigenarbeit» hat schon lange alle Hände voll zu tun mit Menschen, die darauf brennen, etwas selbst zu machen. Ganze Dörfer machen ihre Energie selbst oder setzen auf eine eigene Währung. Im Fernsehen wird auf immer mehr Kanälen gebastelt, renoviert und gekocht. Auch wenn der Zuschauer auf dem Sofa sitzt und das Gesehene nur als «Kopfkino» nachmacht, handelt es ich um ein bemerkenswertes Phänomen und erinnert an unsere Bestimmung, «ganze Menschen» zu sein oder zu werden.

Wozu man gut ist
Ein Selbst ist eine vielschichtige Erscheinung und weitgehend selbst gemacht. Wie sonst wäre der Prozess der Selbst-Werdung der Natur durch uns zu verstehen? Nach der Fusion zweier Zellen nehmen wir neun Monate lang die schönen Formen an, die wir sind, um als teilweise beschriebenes Blatt das Licht der Welt zu erblicken. Die erstaunliche «Plastizität» unseres Gehirns, die bis ins hohe Alter erhalten bleibt, erlaubt es, sowohl unsere eigene Wirklichkeit als auch den kollektiven Möglichkeitsraum immer wieder neu zu erfinden. Vor allem dies unterscheidet uns von den Tieren und macht uns so einzig-artig. Die Fähigkeit, das Mögliche zu denken, treibt uns dazu, nicht nur die zu sein, die wir sind, sondern auch die zu werden, die wir sein könnten.

Woher können wir wissen, wer wir sind und wozu wir gut sind?
Wir können erst wissen, was wir auch noch sind, wenn wir es probiert haben. Körper und Geist sind untrennbar miteinander verbunden. Jedes Lernen fordert und verändert den ganzen Menschen, seine Sinne, seinen Körper und sein Gefühl. Wo Lernen vom Gefühl getrennt bleibt, sind vielleicht bemerkenswerte Inselbegabungen möglich. Doch es ist vor allem das Mitfühlen, das uns mit der Vielfalt unserer Gaben und der Welt verbindet – oder trennt.

Unsere Gaben: Was wir uns schulden und der Welt
Wozu aber sind Hände oder ein Herz gut, die nicht benötigt werden? Was machen wir mit unserer Leiblichkeit und dem Vielen was gelebt werden will, um lebendig zu werden, wenn es dafür keinen Anlass gibt, keinen Ort, kein Werkzeug, niemanden, der es wertschätzt oder braucht?  
Wir sind soziale Wesen. Nicht weniger wichtig als Essen und Trinken ist das Gefühl, gebraucht zu werden. Wir wollen zu etwas gut sein. Doch eben dieser Sinn – wichtigstes aller Lebens-Mittel – gibt es nirgendwo zu kaufen. Das Gegenteil ist der Fall. Nichts ist deprimierender für unser Selbst- und Mitgefühl, als der ewige Kreislauf der Vernichtung aller Werte in der Unterwelt, genannt «Discount». Es ist schwer, den Wert unseres Selbst in einer Welt stabil zu halten, die uns von morgens bis abends signalisiert, dass kein Wert Bestand hat.

Kollektives Vermögen
Wir verdanken unser Selbst aber nicht nur der Natur in und um uns, sondern auch dem kollektiven «kulturellen Vermögen», der Summe allen Wissens und Könnens, an der alle Teil haben sollten, weil sie uns gemeinsam gehört. Was wir vermögen, schulden wir also nicht nur uns, sondern auch der Welt. Auch das ist ein guter Grund, nicht hinter unseren Möglichkeiten zurück zu bleiben!

Autodidakten, Dilettanten und Amateure
Was auch immer wir ansehen, was gewusst und gekonnt wird: Immer fing alles damit an, dass sich ein Mensch selber ermächtigte, selber dachte und machte. Der Autodidakt spielt zu Unrecht eine Nebenrolle in der Menschheitsgeschichte. Dem Eigen-Sinn derer, die trotz eines Überflusses an Antworten beharrlich eigene Frage stellten, verdanken wir viel. Nicht weniger Wertschätzung gebührt den zahllosen Amateuren und Dilettanten, die sich um des reinen Vergnügens willen den Künsten hingaben. Sie verallgemeinerten die Kunst zur Lebenskunst und schufen ein Klima, das es den Berufenen ermöglichte, sich als «Künstler» zu vereinzeln.


Entbefähigung
Der Ägypter Ibrahim Abouleish, Gründer der Initiative «Sekkem» und Träger des alternativen Nobelpreises, erzählt heute noch mit Begeisterung, wie vor 30 Jahren in Österreichs Landen abends aus den Häusern Musik erklang. Doch nicht nur die Hausmusik und das gemeinsame Singen, Erzählen und Vorlesen sind verloren gegangen. Immer weniger Kinder können schwimmen, und Schulärzte beklagen zunehmend mangelndes Geschick bei unseren Jüngsten. Der Schulsport wird zusammengestrichen und das Werken gehört nicht mehr zum Pflichtkanon an unseren Schulen. Selbst das Handwerk wurde in den letzten 20 Jahren zunehmend zum Handlanger der Industrie. Kaum ein Motor, der heute noch repariert werden kann. Wo einst gewiefte Mechaniker den Schraubenzieher oder die Fräse schwangen, werden heute Diagnosecomputer eingesetzt und Module im 5-Minuten-Takt ausgetauscht.

Schwärmen
Angesichts einer Arbeitswelt, die immer mehr Menschen nur noch die Wahl zwischen burn-out und bore-out lässt, erscheint es verständlich und notwendig, wieder selber in die Hand zu nehmen, was uns wirklich am Herzen liegt. Es muss nicht immer nur der Kochlöffel sein. Wie wäre es mit unserem eigenen und gemeinsamen Leben?
Das schöne Wort «schwärmen» bekommt vor diesem Hintergrund als kollektive Intelligenz und Web 2.0 einen sehr charmanten Beigeschmack und ruft uns zu: Gemeinsam sind wir unbeschreiblich klug und können gemeinsam alles, was wir für ein gutes Leben brauchen.
Noch schöner als im Web 2.0 intelligent zu schwärmen, wäre es, auch noch den zweiten Schritt zu tun und das Projekt «Welt 2.0» ganz konkret und gemeinsam in Angriff zu nehmen.
Kurzum: Autodidakten, Dilettanten und Amateure aller Welt, vereinigt Euch! Es gibt viel zu tun.


Christine Ax, M.A., ist Philosophin und Ökonomin und lebt in Hamburg. Sie ist Expertin für nachhaltige Entwicklung und Handwerk. 1997 erschien «Das Handwerk der Zukunft», 2009 «Die Könnensgesellschaft – mit guter Arbeit aus der Krise». www.koennensgesellschaft.de




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07. März 2012
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