Schweigt sie wirklich, die aktuelle Literaturszene?

Immer wieder ist er zu hören, der Vorwurf, die Literatur würde heute schweigen. Schweigen zu Themen wie Bildungsabbau, Zersiedelung, Wachstumswahn oder Laubbläser. Es wird auf früher verwiesen, die Gruppe 47, die Gruppe Olten oder Instanzen wie Dürrenmatt und Frisch. Damals hätten sich Autoren mit beissender Kritik hervorgetan, heisst es, und heute würde geschwiegen, ja gar einer klaren Meinung ausgewichen. Heute ginge es im aktuellen Schaffen um Familiengeschichten, unglückliche Liebesnächte bis hin zur Suche nach sich Selbst. Bei Lichte betrachtet, ist festzustellen, dass dem nicht so ist. Doch der gesellschaftliche Resonanzkörper funktioniert heute anders als noch vor 50 Jahren.


Widmer, von Matt und Freysinger

Warum wird eigentlich immer wieder von der literarischen Zunft erwartet, Aktualitäten kommentieren zu müssen? Der Verfasser fragte an einer Veranstaltung in Solothurn bei Urs Widmer und Peter von Matt diesbezüglich nach. Widmer meinte, es sei nachvollziehbar, von Künstlern, die mit Sprache und Inhalten arbeiten, Meinungen zu erwarten, zudem ja in ihren Büchern unsere Welt gespiegelt würde. Von Matt reagierte etwas genervt und meinte, wenn es nach der politischen Relevanz ginge, müsste ja der Freysinger der wichtigste Schriftsteller sein...
Martin R. Dean meint auf Anfrage, wir hätten heute keine Bewegung wie anno 68 nötig. Wir brauchen und haben heute Autorinnen und Autoren, die sich immer wieder pointiert äussern. Er selber hat in den letzten zwei Jahren sechs grössere Artikel und Essays zu Zeitfragen publiziert. Isolde Schaad gehört zu den wichtigen literarischen Stimmen, die mit herrlich ironisch gespitzter Feder die gesellschaftlichen Eingeweide kitzelt. Zsuzsanna Gahse sieht ihre Werke «unbedingt politisch», das aktuelle «Südsudelbuch» in besonderem Masse. Pedro Lenz ärgert sich in einem Interview mit der ZEIT über die Verdummung unserer Gesellschaft durch die Gratiszeitungen. Lukas Bärfuss fokussiert durch Essays und als Dramatiker sein Augenmerk auf unsere gesellschaftliche Befindlichkeit und erhielt von der NZZ den Titel «externes Gewissen des Schauspielhauses Zürich». Von der Süddeutschen Zeitung über die WOZ bis zur TagesWoche kommentiert Alex Capus den Flughafenstreit oder die Hassliebe zwischen den Schweizern und Deutschen. Nimmt sich der geneigte Leser die Musse und liest sich durch den Bücher- und Blätterwald, wird er in der Tat eine kraftvolle  und kritische Vitaliät in der Literaturszene wahrnehmen.


Wieso immer Frisch und Dürrenmatt?

Aber wo bleibt der Ruck durch die Debattenkultur? Wieso taucht immer wieder die irrige Ansicht auf, sie schlafe, die Wortarbeiterschaft? Es gibt drei profane Antworten auf diese Fragen und auch auf die Frage, warum Frisch und Dürrenmatt so hartnäckig im kollektiven Gedächtnis haften.
1. Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges lechzte Deutschland nach Autoren, die deutsch schreiben, aber woanders herkommen.
2. Die Öffentlichkeit sowie die beiden Autoren liebten und nutzten lange Debatten, Diskussionen mit Bühnenpräsenz, die die heutige Häppchenkultur der Medien fast nicht mehr zulässt.
3. Im Lärm und Getöse der medialen Masse mit Eventzirkus, Promi-Talks und nervösem Klicken im Web verpixelt sich ein Essay, ein kritisches Buch oder ein langes Interview im Kulturteil der Zeitung schneller, als dass ein PC heruntergefahren werden kann.
Und vielleicht könnte man Capus zustimmen, wenn er sagt: «Gerechterweise muss man sagen, dass Autoren in ihren politischen Positionsbezügen nicht immer viel klüger sind als der Sitznachbar in der S-Bahn».
Fazit: Die Schriftstellerei bekennt auf mannigfaltige Art und Weise Farbe. Aber die konsumierende Öffentlichkeit ist entweder farbenblind oder nicht mehr in der Lage, sich auf das Schwarz-auf-Weisse einzulassen. Offen gesagt, der Verfasser glaubt, dass das zuletzt genannte zutrifft, wenn ihm diese Meinung hier gestattet sei.

Urs Heinz Aerni ist freier Journalist und Mitkurator des Festivals «Sprachsalz» in Hall b. Innsbruck www.ursheinzaerni.ch
25. Januar 2013
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