Scheinkampf der kalten Herzen

Die Bürger Deutschlands stehen am 27.09. vor einer Wahl, die eigentlich keine ist. Viele bleiben resigniert daheim oder wählen zähneknirschend das «kleinere Übel». Aber auch ein kleines Übel ist ein Übel, und die Zeiten sind zu ernst, um Wählerstimmen zu verschwenden. (Roland Rottenfußer)

Nie war eine Wahl banaler, nie der Charakter einer Scheinalternative offensichtlicher als bei der Merkel/Steinmeier-Wahl 2009. Mehrere Parteien, die im Grunde dasselbe sagen, treten zu Scheingefechten gegeneinander an. Was wirklich im Interesse des Volkes wäre, wird gar nicht erst Teil der Angebotspalette im Politikbetrieb. Wie in einem kleinen bayerischen Landgasthof darf man zwischen Schweinebraten und Schweinshaxe wählen, für Vegetarier gibt es überhaupt kein Gericht auf der Karte – er kann gegen sein Gewissen wählen oder muss hungrig nach Hause gehen.

Schon Merkel gegen Schröder war im Grunde ein Witz, nachdem der Kanzler seine SPD in eine «bessere» CDU umgestaltet hatte. Schröder übergab Merkel mittels vorgezogener Wahlen die Macht im Lande mehr oder minder freiwillig, was kein Beispiel rührender Versöhnung zwischen verfeindeten Lagern war, sondern lediglich der Beweis dafür, dass beide Politiker im Grunde dem selben Lager angehörten: der NED (Neoliberalen Einheitspartei Deutschlands) mit ihren vier Blockparteien. Bei Steinmeier wiederholt sich diese Wahl, die keine Wahl ist – bei geringerem Unterhaltungswert. Da sich Steinmeiers Name zudem ausgerechnet mit einem Guantanamo-Skandal verbindet, offenbart er die Verstrickung der momentanen politischen Elite auch in das schuldhafte Handeln der Ära Bush.

Eine Schuld, in die Merkel nicht weniger verwickelt ist, hatte sie sich doch beeilt, selbst den geringen Anstandsabstand, den Kanzler Schröder seinerzeit zur Kriegspolitik George W. Bushs einhielt, sogleich wieder zugunsten eines Kuschelkurses aufzuheben. Zwischen einen Kriegsverbrecher und die Bundesregierung passte kein Blatt. Wir sollten das nicht vergessen, wenn sich die Kanzlerin in einigen Tagen wieder zur Wahl stellt. Ebenso wenig wie wir Hartz-IV-Demütigung und Onlineüberwachung vergessen sollten, den bayerischen Angriff auf das Demonstrationsrecht und die Verpfändung unserer Zukunft an «Not leidende Banken». Vergessen wir nicht: Die kollektive Scham vor einer übertrieben offensiven Verwendung der deutschen Fahne fiel im Taumel «Fußballdeutschlands» gerade dann, als es leider wieder eine Menge Gründe gab, sich als Deutscher zu schämen. Vor allem seit von unserem Boden wieder Krieg ausgeht. «Ich schäme mich» – Werner Schneyders bewegendes Chanson, das er vor langen Jahren wegen der österreichischen Waffenexporte geschrieben hat, gilt noch heute, und gerade für Deutschland.

In der Offensichtlichkeit der Zumutung, entweder von Merkel oder von Steinmeier regieren zu lassen, liegt aber auch eine Chance, dass viele aufwachen und mutig, visionär wählen. «Das kleinere Übel zu wählen», bedeutet im Klartext: ein Übel zu wählen. Dazu aber ist mir meine Stimme zu schade, ist die Lage auch zu ernst. «Weder Neonazis noch Neoliberale» – diese Parole für die anstehenden Wahlen mag irritierend sein und bei Vielen Ratlosigkeit auslösen, sie ist aber unumgänglich und kann, wenn sie verstanden wird, eine Suchbewegung bewirken, die unsere Parteienlandschaft umkrempelt. Nach der Wahl werden die Sieger versuchen, uns die «Besser-als-Nix»-Beziehung, die ihre Wähler zu ihnen pflegen, als leidenschaftliche Liebesgeschichte zu verkaufen. Je weniger Stimmen die letztlich Regierenden am Ende auf sich vereinen, desto weniger leicht kann die Täuschung gelingen.

Die derzeitigen Strukturen bringen es mit sich, dass viele Bürger nicht das wählen, was sie wollen, sondern jenes unter den «kleineren Übeln», von dem sie meinen, dass es noch ehesten Chancen hat, die Macht zu erringen. Die undemokratische 5%-Hürde entmutigt Partei-Neugründungen, erschwert deren Finanzierung und behindert den Zustrom kompetenten Personals aus allen Teilen der Gesellschaft. Das gleiche System bringt kleine Parteien in den Medien praktisch zum Verschwinden und versteckt sie wirksam vor dem Volk. Sogar bei «alternativen» Veranstaltungen, die von Non-Governmental-Organisations ausgerichtet werden, finden sich nur «Die Großen» auf dem Podium wieder. Man liebt die Etablierten nicht, aber immerhin sind es «mögliche Sieger» (Konstantin Wecker), was Grund genug ist, ihnen seine Referenz zu erweisen.

CDU, CSU, SPD, FDP und GRÜNE können es sich heute problemlos leisten, in ihren Scheingefechten nicht einmal den Anschein von Integrität und Unterscheidbarkeit zu erwecken. Sie rechnen fest damit, dass ihr Lager unbesiegbar ist, denn eine Mehrheit von «Nicht-Neoliberal» scheint derzeit undenkbar. Ist es wohl auch. Was wir aber tun können, ist den Mächtigen einen überraschend deutlichen Stimmenverlust zu bescheren, der in einigen Fällen zu einem Wechsel im Führungskader führen könnte – und dazu, dass gegenläufige Kräfte in und außerhalb der Parteien Aufwind bekommen. Als Zyniker könnte man sagen: «Kein Wahnsinn dauert ewig – er wird nur durch neue Formen des Wahnsinns ersetzt». Trotzdem bin ich nicht ohne Hoffnung. In der heutigen Machtkonstellation geht es (leider noch) nicht darum, dass wirkliche Opposition den siegen kann. Es geht darum, dass eine Gegenströmung zum Herrschenden überhaupt weiter existieren und, wenn möglich, wachsen kann, damit sie zu einer Keimzelle des Neuen werden kann.

Ich merke dazu an, dass ich die Partei DIE LINKE nicht in einen Topf mit den anderen Etablierten werfe und dass ich froh über ihr Auftauchen in der etablierten Parteienlandschaft bin. Gemessen an dem, was man vorher in Talkshows nach dem inoffiziellen Motto «Neoliberale unter sich» erdulden musste, sind Auftritte von Gysi, Lafontaine oder Wagenknecht erfrischend. Dennoch warne ich davor, das Heil allein in einem möglichen Wachstum der Linksfraktion im Bundestag zu sehen. Ich fürchte, DIE LINKE wird erst dann die Regierung im Bund stellen, wenn sie einen Zustand erreicht hat, in dem es gar nicht mehr wünschenswert ist, dass sie regiert. Wenn sie also ihre Ecken und Kanten so weit abgeschliffen hat, dass der politische Gegner ihr das Adelsprädikat «regierungsfähig» verpasst, das heisst wenn sie eigentlich gar nicht mehr sie selbst ist (die Grünen haben den gleichen Anpassungsprozess längst durchlaufen).

Umso wichtiger ist es also, die ausserparlamentarische Opposition wirksam und schlagkräftig zu machen. Die Tatsache, dass alle in diesen Tagen auf den Wahlausgang starren wie das Kaninchen auf die Schlage, zeigt ja, dass wir erwarten, das, was die neue Regierung entscheiden wird, werde auch tatsächlich umgesetzt. Ausserparlamentarische Opposition bedeutet, dass gegenläufige gesellschaftliche Kräfte so stark werden, dass sich unerträgliche Regierungsentscheidungen, egal von wem sie kommen, als nicht mehr durchsetzbar erweisen. Daran wird nach der Wahl zu arbeiten sein.

Vorerst gilt es, den Schaden, den der Scheinkampf der kalten Herzen auf parlamentarischer Ebene bewirken dürfte, zu begrenzen. Ich gestehe, dass ich derzeit Sympathien für die LINKEN, für verschiedene nicht-faschistische Splitterparteien, für Nichtwähler für eine parteifreie Kandidatin meines Landkreises hege. Meine Wahlentscheidung ist getroffen, dennoch wünsche ich einigen der kleinen Parteien Glück, weil ich deren Themen für wichtig halte, und respektiere auch Menschen, die ungültige Stimmen abgeben – aus Verzweiflung oder als Ausdruck eines gefühlten Mangels an echten Alternativen. Auch bewusste Nichtwähler erfüllen eine wichtige gesellschaftliche Funktion, da sie auf die wachsende Entfremdung der Regierenden von «ihrem» Volk hinweisen.

Für sehr wichtig halte ich es aber, das was wir wählen wollen, tatsächlich zu wählen. Das scheint eine absurde Forderung zu sein, weil es sich scheinbar von selbst versteht - ähnlich wie Konstantin Weckers berühmter Satz «Und nun will ich, was ich tun will, endlich tun». Leider ist es aber keineswegs selbstverständlich, denn Menschen wählen «strategisch», wodurch faktische Machtkonstellationen die Tendenz haben, sich zu verfestigen. Ich wünsche mir, dass möglichst viele Menschen die Partei wählen, die sie tatsächlich am besten finden, ohne sich davon abschrecken zu lassen, dass diese «sowieso nicht in den Bundestag» kommt. Solche Befürchtungen werden dann zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen. Taktische Wähler mögen «vernünftig» sein, nur «Gesinnungswähler» haben aber in der Vergangenheit tatsächlichen Fortschritt bewirkt. Etwa die ersten Wähler der Grünen, die damals noch «echt» waren, jedoch auf aussichtslosem Posten antraten. Wenn die Vernünftigen dabei sind, uns zugrunde zu richten, liegt die einzige Hoffnung wohl in den humanen und lebensfreundlichen Spielarten der Unvernunft.
25. September 2009
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