„Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie – wir wollen Demokratie ohne Kapitalismus!“
Die Verarmung der Bevölkerung schreitet beständig voran. Von wirklichem Widerstand hiergegen vernimmt man jedoch kaum irgendwas. Fast scheint es, als gäbe es in der Bevölkerung weit überwiegend Zustimmung zur neoliberalen Agenda, die sich selbst ohnehin als alternativlos geriert. Und als seien die wenigen, die sich ihr entgegensetzten, fast alles Kriminelle, Radikale, Gewalttäter. Doch der Schein trügt. Denn es gibt ihn – den „Widerstand im Herzen des europäischen Krisenregimes“. Und trotz aller medial-politischen Verleumdungen, Verdrehungen und Kriminalisierungsversuche ist er so agil wie selten zuvor. Jens Wernicke sprach mit Ulrich Wilken, Vizepräsident des Hessischen Landtages, zur Perspektive des Blockupy-Bündnisses und der Notwendigkeit linker Antworten auf die soziale Misere im sich zunehmend totalitärer gebärdenden Land.
Herr Wilken, Sie waren Anmelder der großen Blockupy-Demonstration im Frühjahr letzten Jahres. Damals war Blockupy vor allem als Haufen Radikaler und Brandstifter in den Medien präsent; nun hat man seit Monaten gar nichts mehr gehört. Was ist los, ist die Bewegung tot?
Es gab am frühen Morgen des besagten 18. März Menschen, die unsere Aktionen gekapert und mit ihren Randalen unseren zivilen Ungehorsam überschattet, teilweise sogar verunmöglicht haben. Ein Problem nach der Demonstration war dann ja gerade, rüberzubringen, dass die Gewalt und Randale am frühen Morgen nicht Blockupy waren, sondern im Gegenteil im krassen Widerspruch zu unserem Aktionskonsens standen.
Fast alle Medien haben allerdings nur über die Gewalt berichtet und die nachmittägliche absolut friedliche Kundgebung auf dem Römer und anschließende Demonstration mit über 20.000 Menschen, die ich angemeldet hatte, totgeschwiegen. Von einer „neuen Welle der Gewalt“ war da sofort die Rede – obwohl es diese ganz sicher nie gab.
Gleichzeitig hat diese großartige, gleichermaßen bunte wie entschlossene Demonstration am Abend allen Versuchen, Blockupy und die Bewegung zu spalten und zur gegenseitigen Distanzierung zu zwingen, umgehend eine klare Absage erteilt. Es war ein Satz von Naomi Klein auf der Abschlusskundgebung, der diese Gemeinsamkeit der Protestierenden auf den Punkt brachte, als sie der EZB zurief: „Ihr seid die wahren Vandalen. Ihr zündet keine Autos an, ihr setzt die Welt in Brand!“ Blockupy stand und steht auch weiter als Bündnis dafür, Massenprotest und ungehorsame Aktionen, an denen jeder und jede teilnehmen kann, ins Herz des europäischen Krisenregimes zu tragen. Blockupy hat sich zu einem der transnationalen und europaweiten Räume entwickelt, in dem wir eine gemeinsame Praxis gegen die Krisenpolitik und ein solidarisches Miteinander für ein Europa von unten entwickeln und reflektieren können.
In Auswertungstreffen haben wir beschlossen, den Fokus der Blockupy-Aktivitäten nun nach Berlin zu legen, weil dort maßgeblich die europäische Austeritätspolitik bestimmt wird. In Konsequenz hat es bereits mehrere Demonstrationen und Aktionen in Berlin – aber auch in Brüssel – gegeben. Über diese ist medial aber jeweils nicht berichtet worden. Ob das daran liegt, dass den Medienvertretern die Randale fehlten, kann man nur mutmaßen.
Am ersten Februarwochenende treffen wir uns nun aber in Berlin zu einem Ratschlag, bei dem wir über den Fahrplan der nächsten Aktionen und Aktivitäten beraten und entscheiden werden.
Wir werden mit allen bisher an Blockupy Beteiligten und mit allen künftigen Bündnispartnern im Kampf gegen die Austeritätspolitik und für ein anderes Europa der Demokratie, der Solidarität und der sozialen Rechte über zukünftige Strategien und Eingriffsmöglichkeiten beraten. Also: Nein, die Bewegung ist nicht tot, sie lebt – wird medial jedoch ausgegrenzt und ignoriert!
Die Linkspartei will im Rahmen dieses Ratschlages ja vorschlagen, sich der Flüchtlingskrise als Thema anzunehmen. Warum und inwiefern denn das?
Das ist falsch. Richtig ist, dass in der zweiten Jahreshälfte 2015 auch viele Aktive aus unserer Partei geholfen haben, Flüchtlingen einen Neustart in Deutschland zu ermöglichen oder hier überhaupt einigermaßen heil anzukommen. Aber das macht Blockupy ja nicht überflüssig! Im Gegenteil: Wer von der „Flüchtlingskrise“ spricht, unterschlägt die Krise der sozialen Gerechtigkeit. Das Versagen der neoliberalen Politik wird ob der Flüchtenden gerade einfach noch deutlicher: Es fehlen mindestens 4 Millionen Sozialwohnungen, es mangelt an Infrastruktur, an Kita-Plätzen. Mit Schäubles Ideologie der „Schwarzen Null“ sind die gesellschaftlichen Herausforderungen nicht zu bewältigen. Der Kapitalismus ist die Krise, jeden Tag, überall auf der Welt. Notwendig sind also Bewegungen, die in fiskal- und sozialpolitische Offensiven münden.
Moment! Noch einmal zum Verständnis: Die nach Deutschland Geflüchteten sind kein Problem, sondern offenbaren dasselbe, das eigentliche und systemische vielmehr, das sich Kapitalismus nennt? Verstehe ich recht?
Genau. Das will die herrschende Politik uns aber gern vergessen lassen, und erklärt daher das Elend von Millionen Flüchtenden zur „Krise“ in diesem Land.
Unverändert bleiben soll dabei der Umgang mit den sogenannten Krisenländern wie unter anderem Griechenland, Portugal und Spanien, der vor allem durch massive Kürzungspolitik bestimmt ist. Die Linksregierung in Athen kämpft nach dem Staatstreich der EU gegen sie beispielsweise nach wie vor gegen die weitere Schrumpfung der der Wirtschaftskraft, welche wiederum Elend und Armut der Menschen dort weiter forciert. Von den Kriegen allüberall auf der Welt, die für die meisten Flüchtenden die Ursache dafür sind, ihre Heimat zu verlassen, ganz zu schweigen.
Die viel gerühmte „Willkommenskultur“ darf daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine solidarisch verfasste Gesellschaftlichkeit immer weiter ausgehöhlt und Institutionen der öffentlichen Daseinsfürsorge zunehmend privatisiert worden sind.
Blockupy steht hier dafür, Massenprotest und ungehorsame Aktionen, an denen alle teilnehmen können, ins Herz des europäischen Krisenregimes zu tragen. Wir setzen in Deutschland und Europa Aktionen von „Regelbruch“, Dissidenz und zumindest symbolhafter Gegnerschaft dagegen. Dies bedeutet einen Bruch mit den Regeln des Diskurses – nämlich der entpolitisierenden Verwaltung der Krise und deren Interpretation als „Nationenverhältnis“ – wie auch den Bruch mit einem korporatistischen weil auf vermeintlichen Konsens gerichteten Gesellschaftsvertrag.
Unser Ziel ist, da haben Sie mit Ihrer Frage ins Schwarze getroffen, eine sozialpolitische Offensive im Land. Das Ausbleiben dieser, in Verbindung mit Debatten über Alternativen zu Krieg, Armut, Ausbeutung, ja, Kapitalismus, das ist die Krise im Land. Das, und nicht die Flüchtlinge.
Nachdem Sie als Person nun über Monate angegriffen worden sind, nur, weil Sie in Frankfurt als Demonstrationsanmelder fungiert haben, also: Fürchten Sie nicht, dass die Forderung nach einer sozialpolitischen Offensive seitens all jener Parteien, die das für unmöglich und einen immer weiterreichenden Sozialkahlschlag als alternativlos ansehen – dass das noch radikalere Anfeindungen nicht zuletzt auch im Hessischen Landtag, dessen Vizepräsident Sie sind, nach sich ziehen wird?
Ich erwarte schon, dass die Auseinandersetzungen schärfer werden – auch im Parlament, denn wir wollen ja wirklich etwas Grundlegendes ändern und da wehren sich die, die etwas verlieren könnten. Allerdings ist das für mich ein Ansporn und nicht abschreckend.
Bisher werden weder Verantwortliche noch Profiteure zur Bewältigung der vor uns liegenden Integrationsaufgaben in die Pflicht genommen. Stattdessen entsteht ein Verteilungskampf zwischen den finanziell Schwächsten der Gesellschaft. Diese Menschen konkurrieren sowohl um bezahlbaren Wohnraum als auch um Jobs und immer knapper werdende staatliche Zuwendungen.
Die zunehmende Entsolidarisierung, die dies zur Folge hat, stärkt dabei rassistische und teils faschistische Tendenzen. Die Umfragen der jüngsten Zeit zeigen, dass der Aufwind des Rechtspopulismus zwar seine Stärkung durch die Flüchtlingskrise erhält, entscheidend aber die wahrgenommenen gesellschaftlichen Zustände wachsender sozialer Ungleichheit sind, die er als Nährboden nutzt. Dem Anwachsen der AfD auf mittlerweile zweistellige Prozentzahlen muss deshalb neben konsequenten antifaschistischen Aktionen auch mit einer fiskal- und sozialpolitischen Offensive begegnet werden.
Ein starker Sozialstaat darf sich dabei nicht auf Armenfürsorge beschränken, sondern muss Umverteilung zugunsten der Schwachen durch ein gerechteres Steuersystem sowie nachhaltige und sozial verantwortliche Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik organisieren.
Wir haben kein Ausgaben-, sondern ein Einnahmeproblem. Der Sozialstaat der Zukunft muss vor allem der Selbstermächtigung und demokratischen Selbstbestimmung neue Wege eröffnen. Im Kern muss es dabei um die einklagbare staatliche Gewährleistungsverantwortung gehen, die seitens immer üblicher werdender privater Hilfen und Almosen – und seien sie kurzfristig auch noch so hilfreich – niemals gegeben sein wird.
Wurde Blockupy und wurden auch Sie wohl ggf. vor allem deswegen so angegriffen, verleumdet, stigmatisiert, weil einfach nicht denkbar sein darf, was von Ihnen mit aller Macht als Denkbar in die Öffentlichkeit getragen werden soll? Geht es hier um die Kriminalisierung von Kapitalismuskritik?
Davon ist auszugehen. In Blockupy-Kreisen gibt es daher inzwischen ein geflügeltes Wort, das da heißt: „Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie – wir wollen Demokratie ohne Kapitalismus“. Und offensichtlich tut eine so klare Positionierung weh und wird daher bekämpft.
Was geschah denn im Frühjahr 2015 in Frankfurt? Da brannten doch Mülltonnen und dutzende „Randalierer“ und „Feindstrafrecht widerspiegelt – waren, geschützt durch das Versammlungsrecht sowie Sie als Versammlungsleiter, in Frankfurt unterwegs?
Formal bin ich „nur“ der Versammlungsleiter bei der Kundgebung und Demonstration am Nachmittag und Abend gewesen. Morgens hatten wir zwar unsere Aktionen rund um die EZB angekündigt, aber nicht als Veranstaltung angemeldet. Aber offensichtlich ist am Morgen der Protest über unerträgliche Lebensbedingungen als Folge der Verarmungspolitik im Herzen der Bestie, also auf den Straßen Frankfurts angekommen und eskaliert.
Ich habe bereits anlässlich der Debatte über Blockupy im Hessischen Landtag am 24. März 2015 den Frankfurter CDU-Stadtverordneten Stephan Siegler zitiert, weil man mir ja eh nicht zuhören wollte: „Wenn man sieht, wie die Menschen in Spanien und Italien leben, da haben viele die Hoffnung auf politische Lösungen verloren: 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, eine noch höhere in Griechenland, in Griechenland im Grunde genommen keiner mehr, der normal Geld verdient, eine Wirtschaft, die de facto zusammengebrochen ist. Da suchen sich gerade junge Leute dann schon diejenigen, die Verbesserungen und Veränderungen versprechen, weil ja die etablierte Politik eben zu den Lebensverhältnissen geführt hat, in denen sie zurzeit leben.“
Ähnlich äußerte sich ein anderer Frankfurter, der Kulturschaffende Willy Praml, im Spiegel: „Ich verstehe die Wut, die viele der Leute gerade aus südeuropäischen Ländern haben. Denen geht es dreckig. Die haben eine enorme Jugendarbeitslosigkeit. Natürlich ist es blödsinnig, Scheiben einzuschmeißen und Autos anzuzünden. Damit haben sich die jungen Leute nur selbst geschadet. Oder vielmehr: Einige wenige haben der großen Mehrheit von ihnen geschadet. Die meisten waren zwar tatsächlich sehr wütend, aber sie wollten ohne Gewalt gegen die in Europa vorherrschende Politik demonstrieren und müssen jetzt erleben, dass fast alle Medien nur über brennende Straßensperren und Krawalle berichten. Dabei haben die junge Leute etwas zu sagen, wenn man ihnen zuhört.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Ja, und treten Sie denn nun zurück? Sie sind doch als Landtagsvize untragbar, wie man überall liest. Die Autos brannten doch wegen Ihnen … oder so.
Nein, selbstverständlich trete ich nicht zurück, weil ich mir nix vorzuwerfen habe. Eigentlich sollten alle darüber einig sein, welche Bedeutung es hat, wenn Blockupy es schafft, am Nachmittag eines Werktages über 20.000 Menschen zu einem friedlichen antikapitalistischen Protest zusammenzubringen – selbst unter dem Eindruck der Geschehnisse, der Straftaten, der sinnlosen Gewalt am Vormittag. Es ist einfach Fakt, dass die Politik, gegen die Blockupy demonstriert und Widerstand organisiert, Wut und Empörung auslöst. Dies abzustellen kann nur durch eine Veränderung der Politik gelingen.
Die meinen Rücktritt als Vizepräsident und eine Begleichung der Schäden durch mich verlangen, wie dies zum Beispiel der hessische Ministerpräsident öffentlich getan hat, haben ein gestörtes Verständnis des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit. Sie fordern, dass der Anmelder einer Demonstration – regional und zeitlich weit von Gewalttaten entfernt – für Schäden haftbar gemacht werden soll. Man fragt sich, wie weit die das ausdehnen wollen? Soll das auch für die Nachbarstadt gelten? Soll das für die ganze Woche gelten? Was haben die für ein Verständnis von diesem Grundrecht, wenn die Haftbarkeit eines Demonstrationsanmelders für Vorgänge hergestellt werden soll, die nicht auf seiner Veranstaltung passieren, sondern zeitlich und räumlich entfernt geschehen? Das wäre eine vollkommen unzulässige Einschränkung des Demonstrationsrechts. Wer sollte sich dann überhaupt noch finden, als Anmelder zu fungieren?
Wie bewerten Sie denn diese „Geiselnahme“ von sich als Person für Dinge, mit denen Sie nachweislich nichts zu tun hatten. Ist das jetzt neuerdings der Ton und Umgang in der „großen Politik“?
Dieser Versuch der zukünftigen Abschreckung, antikapitalistische Demonstrationen und Aktionen anzumelden und sich an ihnen zu beteiligen, ist schiefgegangen. Da haben sie sich den Falschen ausgesucht, weil ich mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lasse und weil ich breite öffentliche Solidarität erfahren habe – bei weitem nicht nur aus meiner Partei. Vielen Dank dafür. Es zeigt aber auch, dass Standfestigkeit und aufrechter Gang dringend gebraucht werden, wenn man sich mit den Herrschenden anlegt. Ich wünsche uns allen, dass wir diese Kraft auch weiterhin haben.
Noch ein letztes Wort?
Wir sehen uns auf der nächsten Demo, wenn wieder Tausende skandieren: A – ANTI – ANTIKAPITALISTA!
Ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche gutes Gelingen mit Blockupy.
Ulrich Wilken, 57 Jahre alt, ist Arbeitswissenschaftler, Mitglied des Hessischen Landtags und seit Januar 2014 dessen Vizepräsident. Er ist Mitglied im Landesvorstand DIE LINKE. Hessen, deren Vorsitzender er bis 2014 war.
Es gab am frühen Morgen des besagten 18. März Menschen, die unsere Aktionen gekapert und mit ihren Randalen unseren zivilen Ungehorsam überschattet, teilweise sogar verunmöglicht haben. Ein Problem nach der Demonstration war dann ja gerade, rüberzubringen, dass die Gewalt und Randale am frühen Morgen nicht Blockupy waren, sondern im Gegenteil im krassen Widerspruch zu unserem Aktionskonsens standen.
Fast alle Medien haben allerdings nur über die Gewalt berichtet und die nachmittägliche absolut friedliche Kundgebung auf dem Römer und anschließende Demonstration mit über 20.000 Menschen, die ich angemeldet hatte, totgeschwiegen. Von einer „neuen Welle der Gewalt“ war da sofort die Rede – obwohl es diese ganz sicher nie gab.
Gleichzeitig hat diese großartige, gleichermaßen bunte wie entschlossene Demonstration am Abend allen Versuchen, Blockupy und die Bewegung zu spalten und zur gegenseitigen Distanzierung zu zwingen, umgehend eine klare Absage erteilt. Es war ein Satz von Naomi Klein auf der Abschlusskundgebung, der diese Gemeinsamkeit der Protestierenden auf den Punkt brachte, als sie der EZB zurief: „Ihr seid die wahren Vandalen. Ihr zündet keine Autos an, ihr setzt die Welt in Brand!“ Blockupy stand und steht auch weiter als Bündnis dafür, Massenprotest und ungehorsame Aktionen, an denen jeder und jede teilnehmen kann, ins Herz des europäischen Krisenregimes zu tragen. Blockupy hat sich zu einem der transnationalen und europaweiten Räume entwickelt, in dem wir eine gemeinsame Praxis gegen die Krisenpolitik und ein solidarisches Miteinander für ein Europa von unten entwickeln und reflektieren können.
In Auswertungstreffen haben wir beschlossen, den Fokus der Blockupy-Aktivitäten nun nach Berlin zu legen, weil dort maßgeblich die europäische Austeritätspolitik bestimmt wird. In Konsequenz hat es bereits mehrere Demonstrationen und Aktionen in Berlin – aber auch in Brüssel – gegeben. Über diese ist medial aber jeweils nicht berichtet worden. Ob das daran liegt, dass den Medienvertretern die Randale fehlten, kann man nur mutmaßen.
Am ersten Februarwochenende treffen wir uns nun aber in Berlin zu einem Ratschlag, bei dem wir über den Fahrplan der nächsten Aktionen und Aktivitäten beraten und entscheiden werden.
Wir werden mit allen bisher an Blockupy Beteiligten und mit allen künftigen Bündnispartnern im Kampf gegen die Austeritätspolitik und für ein anderes Europa der Demokratie, der Solidarität und der sozialen Rechte über zukünftige Strategien und Eingriffsmöglichkeiten beraten. Also: Nein, die Bewegung ist nicht tot, sie lebt – wird medial jedoch ausgegrenzt und ignoriert!
Die Linkspartei will im Rahmen dieses Ratschlages ja vorschlagen, sich der Flüchtlingskrise als Thema anzunehmen. Warum und inwiefern denn das?
Das ist falsch. Richtig ist, dass in der zweiten Jahreshälfte 2015 auch viele Aktive aus unserer Partei geholfen haben, Flüchtlingen einen Neustart in Deutschland zu ermöglichen oder hier überhaupt einigermaßen heil anzukommen. Aber das macht Blockupy ja nicht überflüssig! Im Gegenteil: Wer von der „Flüchtlingskrise“ spricht, unterschlägt die Krise der sozialen Gerechtigkeit. Das Versagen der neoliberalen Politik wird ob der Flüchtenden gerade einfach noch deutlicher: Es fehlen mindestens 4 Millionen Sozialwohnungen, es mangelt an Infrastruktur, an Kita-Plätzen. Mit Schäubles Ideologie der „Schwarzen Null“ sind die gesellschaftlichen Herausforderungen nicht zu bewältigen. Der Kapitalismus ist die Krise, jeden Tag, überall auf der Welt. Notwendig sind also Bewegungen, die in fiskal- und sozialpolitische Offensiven münden.
Moment! Noch einmal zum Verständnis: Die nach Deutschland Geflüchteten sind kein Problem, sondern offenbaren dasselbe, das eigentliche und systemische vielmehr, das sich Kapitalismus nennt? Verstehe ich recht?
Genau. Das will die herrschende Politik uns aber gern vergessen lassen, und erklärt daher das Elend von Millionen Flüchtenden zur „Krise“ in diesem Land.
Unverändert bleiben soll dabei der Umgang mit den sogenannten Krisenländern wie unter anderem Griechenland, Portugal und Spanien, der vor allem durch massive Kürzungspolitik bestimmt ist. Die Linksregierung in Athen kämpft nach dem Staatstreich der EU gegen sie beispielsweise nach wie vor gegen die weitere Schrumpfung der der Wirtschaftskraft, welche wiederum Elend und Armut der Menschen dort weiter forciert. Von den Kriegen allüberall auf der Welt, die für die meisten Flüchtenden die Ursache dafür sind, ihre Heimat zu verlassen, ganz zu schweigen.
Die viel gerühmte „Willkommenskultur“ darf daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine solidarisch verfasste Gesellschaftlichkeit immer weiter ausgehöhlt und Institutionen der öffentlichen Daseinsfürsorge zunehmend privatisiert worden sind.
Blockupy steht hier dafür, Massenprotest und ungehorsame Aktionen, an denen alle teilnehmen können, ins Herz des europäischen Krisenregimes zu tragen. Wir setzen in Deutschland und Europa Aktionen von „Regelbruch“, Dissidenz und zumindest symbolhafter Gegnerschaft dagegen. Dies bedeutet einen Bruch mit den Regeln des Diskurses – nämlich der entpolitisierenden Verwaltung der Krise und deren Interpretation als „Nationenverhältnis“ – wie auch den Bruch mit einem korporatistischen weil auf vermeintlichen Konsens gerichteten Gesellschaftsvertrag.
Unser Ziel ist, da haben Sie mit Ihrer Frage ins Schwarze getroffen, eine sozialpolitische Offensive im Land. Das Ausbleiben dieser, in Verbindung mit Debatten über Alternativen zu Krieg, Armut, Ausbeutung, ja, Kapitalismus, das ist die Krise im Land. Das, und nicht die Flüchtlinge.
Nachdem Sie als Person nun über Monate angegriffen worden sind, nur, weil Sie in Frankfurt als Demonstrationsanmelder fungiert haben, also: Fürchten Sie nicht, dass die Forderung nach einer sozialpolitischen Offensive seitens all jener Parteien, die das für unmöglich und einen immer weiterreichenden Sozialkahlschlag als alternativlos ansehen – dass das noch radikalere Anfeindungen nicht zuletzt auch im Hessischen Landtag, dessen Vizepräsident Sie sind, nach sich ziehen wird?
Ich erwarte schon, dass die Auseinandersetzungen schärfer werden – auch im Parlament, denn wir wollen ja wirklich etwas Grundlegendes ändern und da wehren sich die, die etwas verlieren könnten. Allerdings ist das für mich ein Ansporn und nicht abschreckend.
Bisher werden weder Verantwortliche noch Profiteure zur Bewältigung der vor uns liegenden Integrationsaufgaben in die Pflicht genommen. Stattdessen entsteht ein Verteilungskampf zwischen den finanziell Schwächsten der Gesellschaft. Diese Menschen konkurrieren sowohl um bezahlbaren Wohnraum als auch um Jobs und immer knapper werdende staatliche Zuwendungen.
Die zunehmende Entsolidarisierung, die dies zur Folge hat, stärkt dabei rassistische und teils faschistische Tendenzen. Die Umfragen der jüngsten Zeit zeigen, dass der Aufwind des Rechtspopulismus zwar seine Stärkung durch die Flüchtlingskrise erhält, entscheidend aber die wahrgenommenen gesellschaftlichen Zustände wachsender sozialer Ungleichheit sind, die er als Nährboden nutzt. Dem Anwachsen der AfD auf mittlerweile zweistellige Prozentzahlen muss deshalb neben konsequenten antifaschistischen Aktionen auch mit einer fiskal- und sozialpolitischen Offensive begegnet werden.
Ein starker Sozialstaat darf sich dabei nicht auf Armenfürsorge beschränken, sondern muss Umverteilung zugunsten der Schwachen durch ein gerechteres Steuersystem sowie nachhaltige und sozial verantwortliche Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik organisieren.
Wir haben kein Ausgaben-, sondern ein Einnahmeproblem. Der Sozialstaat der Zukunft muss vor allem der Selbstermächtigung und demokratischen Selbstbestimmung neue Wege eröffnen. Im Kern muss es dabei um die einklagbare staatliche Gewährleistungsverantwortung gehen, die seitens immer üblicher werdender privater Hilfen und Almosen – und seien sie kurzfristig auch noch so hilfreich – niemals gegeben sein wird.
Wurde Blockupy und wurden auch Sie wohl ggf. vor allem deswegen so angegriffen, verleumdet, stigmatisiert, weil einfach nicht denkbar sein darf, was von Ihnen mit aller Macht als Denkbar in die Öffentlichkeit getragen werden soll? Geht es hier um die Kriminalisierung von Kapitalismuskritik?
Davon ist auszugehen. In Blockupy-Kreisen gibt es daher inzwischen ein geflügeltes Wort, das da heißt: „Sie wollen Kapitalismus ohne Demokratie – wir wollen Demokratie ohne Kapitalismus“. Und offensichtlich tut eine so klare Positionierung weh und wird daher bekämpft.
Was geschah denn im Frühjahr 2015 in Frankfurt? Da brannten doch Mülltonnen und dutzende „Randalierer“ und „Feindstrafrecht widerspiegelt – waren, geschützt durch das Versammlungsrecht sowie Sie als Versammlungsleiter, in Frankfurt unterwegs?
Formal bin ich „nur“ der Versammlungsleiter bei der Kundgebung und Demonstration am Nachmittag und Abend gewesen. Morgens hatten wir zwar unsere Aktionen rund um die EZB angekündigt, aber nicht als Veranstaltung angemeldet. Aber offensichtlich ist am Morgen der Protest über unerträgliche Lebensbedingungen als Folge der Verarmungspolitik im Herzen der Bestie, also auf den Straßen Frankfurts angekommen und eskaliert.
Ich habe bereits anlässlich der Debatte über Blockupy im Hessischen Landtag am 24. März 2015 den Frankfurter CDU-Stadtverordneten Stephan Siegler zitiert, weil man mir ja eh nicht zuhören wollte: „Wenn man sieht, wie die Menschen in Spanien und Italien leben, da haben viele die Hoffnung auf politische Lösungen verloren: 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, eine noch höhere in Griechenland, in Griechenland im Grunde genommen keiner mehr, der normal Geld verdient, eine Wirtschaft, die de facto zusammengebrochen ist. Da suchen sich gerade junge Leute dann schon diejenigen, die Verbesserungen und Veränderungen versprechen, weil ja die etablierte Politik eben zu den Lebensverhältnissen geführt hat, in denen sie zurzeit leben.“
Ähnlich äußerte sich ein anderer Frankfurter, der Kulturschaffende Willy Praml, im Spiegel: „Ich verstehe die Wut, die viele der Leute gerade aus südeuropäischen Ländern haben. Denen geht es dreckig. Die haben eine enorme Jugendarbeitslosigkeit. Natürlich ist es blödsinnig, Scheiben einzuschmeißen und Autos anzuzünden. Damit haben sich die jungen Leute nur selbst geschadet. Oder vielmehr: Einige wenige haben der großen Mehrheit von ihnen geschadet. Die meisten waren zwar tatsächlich sehr wütend, aber sie wollten ohne Gewalt gegen die in Europa vorherrschende Politik demonstrieren und müssen jetzt erleben, dass fast alle Medien nur über brennende Straßensperren und Krawalle berichten. Dabei haben die junge Leute etwas zu sagen, wenn man ihnen zuhört.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Ja, und treten Sie denn nun zurück? Sie sind doch als Landtagsvize untragbar, wie man überall liest. Die Autos brannten doch wegen Ihnen … oder so.
Nein, selbstverständlich trete ich nicht zurück, weil ich mir nix vorzuwerfen habe. Eigentlich sollten alle darüber einig sein, welche Bedeutung es hat, wenn Blockupy es schafft, am Nachmittag eines Werktages über 20.000 Menschen zu einem friedlichen antikapitalistischen Protest zusammenzubringen – selbst unter dem Eindruck der Geschehnisse, der Straftaten, der sinnlosen Gewalt am Vormittag. Es ist einfach Fakt, dass die Politik, gegen die Blockupy demonstriert und Widerstand organisiert, Wut und Empörung auslöst. Dies abzustellen kann nur durch eine Veränderung der Politik gelingen.
Die meinen Rücktritt als Vizepräsident und eine Begleichung der Schäden durch mich verlangen, wie dies zum Beispiel der hessische Ministerpräsident öffentlich getan hat, haben ein gestörtes Verständnis des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit. Sie fordern, dass der Anmelder einer Demonstration – regional und zeitlich weit von Gewalttaten entfernt – für Schäden haftbar gemacht werden soll. Man fragt sich, wie weit die das ausdehnen wollen? Soll das auch für die Nachbarstadt gelten? Soll das für die ganze Woche gelten? Was haben die für ein Verständnis von diesem Grundrecht, wenn die Haftbarkeit eines Demonstrationsanmelders für Vorgänge hergestellt werden soll, die nicht auf seiner Veranstaltung passieren, sondern zeitlich und räumlich entfernt geschehen? Das wäre eine vollkommen unzulässige Einschränkung des Demonstrationsrechts. Wer sollte sich dann überhaupt noch finden, als Anmelder zu fungieren?
Wie bewerten Sie denn diese „Geiselnahme“ von sich als Person für Dinge, mit denen Sie nachweislich nichts zu tun hatten. Ist das jetzt neuerdings der Ton und Umgang in der „großen Politik“?
Dieser Versuch der zukünftigen Abschreckung, antikapitalistische Demonstrationen und Aktionen anzumelden und sich an ihnen zu beteiligen, ist schiefgegangen. Da haben sie sich den Falschen ausgesucht, weil ich mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lasse und weil ich breite öffentliche Solidarität erfahren habe – bei weitem nicht nur aus meiner Partei. Vielen Dank dafür. Es zeigt aber auch, dass Standfestigkeit und aufrechter Gang dringend gebraucht werden, wenn man sich mit den Herrschenden anlegt. Ich wünsche uns allen, dass wir diese Kraft auch weiterhin haben.
Noch ein letztes Wort?
Wir sehen uns auf der nächsten Demo, wenn wieder Tausende skandieren: A – ANTI – ANTIKAPITALISTA!
Ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche gutes Gelingen mit Blockupy.
Ulrich Wilken, 57 Jahre alt, ist Arbeitswissenschaftler, Mitglied des Hessischen Landtags und seit Januar 2014 dessen Vizepräsident. Er ist Mitglied im Landesvorstand DIE LINKE. Hessen, deren Vorsitzender er bis 2014 war.
Dieser Text erschien zuerst auf den "NachDenkSeiten - die kritische Website". Die Verwertung durch uns erfolgt im Rahmen der Creative Commons Lizenz 2.0 Non-Commercial, unter welcher er publiziert wurde.
20. Februar 2016
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