Soziale Demokratie sucht Partei

Europaweit zeichnet sich ein Trend ab: Sozialdemokratische Parteien sind die grössten Wahlverlierer. Ihr gesellschaftlicher Einfluss schwindet. Erleben wir zurzeit die Grablegung eines historisch Gesellschaftsentwurfes?

SPD-Plakat von 1919

Nie zuvor in ihrer über hundertjährigen Geschichte haben sozialdemokratische Parteien in einem solchen Masse Wähler verloren, wie in den vergangenen Jahren. Einst angetreten, um Rechte und Gerechtigkeit für die arbeitenden Menschen zu erkämpfen, wenden sich genau diese nun von «ihrer» Partei ab.

Die Parlamentswahlen in zwei bedeutenden europäischen Industrienationen – Deutschland wählte im September 2017 und Italien im März 2018 – machen diese Entwicklung einmal mehr deutlich. In Deutschland verloren die Sozialdemokraten gut fünf Prozent ihrer Stimmen und damit vierzig Sitze im Parlament. Nur noch ein Fünftel der Wähler goutierte im vergangenen Herbst die Politik der SPD und wollte sie weiter im Bundestag sehen.

Noch schlimmer erging es dem italienischen Partito Democratico unter dem ehemaligen Ministerpräsidenten Matteo Renzi. Die von ihm geführte Mitte-links-Koalition büsste fast sieben Prozentpunkte ein, ihr Anteil im Parlament liegt künftig deutlich unter zwanzig Prozent. Genauso wie die SPD in Deutschland bietet die PD in Italien schon lange keine gesellschaftliche Alternative mehr an. Nicht das Wählerpotential ist der Sozialdemokratie abhandengekommen. Die Stammwähler haben eine Partei verloren, die ihre Interessen nachhaltig vertritt. Für die westeuropäischen Demokratien erweist sich die Marginalisierung der Sozialdemokratie als verheerend.

Die Aufteilung in zwei politische Lager – symbolisiert durch jeweils einflussreiche Volksparteien – prägte die westeuropäischen Parlamente der Nachkriegszeit. Bis zum Ende des «real existierenden Sozialismus» der UdSSR und ihren Bündnisstaaten erwies sich dieses Parteiengefüge als beständig und aus bürgerlicher Sicht auch nützlich. Beide, auf der einen Seite das konservative Lager, auf der anderen die sozialistischen oder sozialliberalen Kräfte, sorgten so für eine mehr oder weniger soziale Marktwirtschaft und gesellschaftliche Gerechtigkeit. Ein Lager regierte, während das andere Opposition machte – die Rollen konnten schnell gewechselt werden.
Der Fall des Eisernen Vorhanges liess nicht nur die politischen Systeme des Ostens zusammenbrechen, vielmehr brachen für den Kapitalismus nun tatsächlich sämtliche Dämme. Mit der «gewissen Zurückhaltung», also einer nicht allzu dreister kapitalistischer Gier, war Anfang der 1990er-Jahre Schluss und der Weg für die totale Globalisierung der Märkte frei.
 Eigentlich hätten damals bei der Sozialdemokratie die Alarmglocken läuten müssen. Doch statt gegen diese Neuausrichtung des Wirtschaftssystems mobilzumachen, fanden sich ausgerechnet unter sozialdemokratischen Parteiführern die vehementesten Anhänger einer unregulierten Entfesselung der Märkte: Gerhard Schröder und Tony Blair – sie stehen beispielhaft für diesen radikalen parteipolitischen Richtungswechsel.

Ende des vergangenen Jahrhunderts spülte es die beiden Gesinnungsgenossen an die Macht; als sozialdemokratische Regierungschefs beendeten sie in ihren Ländern lange Phasen konservativer Politik. Ein Neuanfang im Sinne ihrer Wähler war das nicht, denn beide öffneten dem Neoliberalismus Tür und Tor. Blair trat mit «New Labour» die Nachfolge des Thatcherismus an, Schröder begann auf relativem Neuland. Dass eine solche Entwicklung ausgerechnet in den zwei reichsten, bevölkerungsstärksten EU-Staaten ihren Ausgangspunkt nahm, den führenden Wirtschaftsmächten mit einer traditionell gut organisierten Arbeiterschaft, hatte fraglos eine Signalwirkung auf andere sozialdemokratische Parteien in Europa.

Während sich im Vereinigten Königreich Tony Blair immerhin zehn Jahre lang an der Regierung halten konnte, war in Deutschland Gerhard Schröders Amtszeit kürzer und vor allem von keinem rühmlichen Abgang gekrönt. Seitdem dümpelt seine Partei allenfalls als Juniorpartner an der Seite der Christdemokraten in grossen Koalitionen. Zwar regiert sie ein bisschen mit, scheint aber jegliches politische Profil verloren zu haben.

Das zentrale Problem sozialdemokratischer Parteien liegt nach Ansicht der belgischen Politologin Chantal Mouffe darin, sich zum aktiven Teil dieses Systems gemacht zu haben. Und deshalb «besteht kaum Hoffnung, dass die europäische Sozialdemokratie überlebt. Sie ist nicht mehr zu reparieren».

Betrachtet man die jüngsten Zuckungen der traditionsreichen «alten Tante SPD» in Deutschland, ist man geneigt, dem zuzustimmen. Unmittelbar nach der Wahl tönte sie kategorisch «Nein zur GroKo», doch nach dem Scheitern der Jamaika-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP geriet sie unter Druck. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier forderte die Parteispitze auf, sich ihrer «Verantwortung zu stellen» und das bedeute, als Juniorpartner mitzuregieren. Ein Koalitionsvertrag wurde eiligst zusammengezimmert, und er zeigt wenig sozialdemokratisches Profil.
Doch mit viel Überzeugungsarbeit gelang es der Parteispitze, 66 Prozent der ca. 260 000 SPD-Mitglieder ihre Zustimmung zu entlocken. Diese Mitgliederentscheide sind eigentlich ein sehr demokratisches Verfahren, doch dieses Mal peitschte die Führung ihren Genossen das Wahlverhalten regelrecht ein. Ihr waren die «Jusos» in die Quere gekommen. Die Jugendorganisation der SPD hatte sich von Anfang an konsequent gegen jede Form von GroKo, unabhängig vom Inhalt des Verhandlungsergebnisses, positioniert und plädierte für eine christsoziale Minderheitsregierung.

Grundsätzlich wollen die Jusos eine entschiedene Neuausrichtung der Partei, schielen nach Grossbritannien, ein Teil schwärmt für Jeremy Corbyn und den konsequent linken Kurs der dortigen Labour Party (vgl. ZP 153). Doch bleiben die Jusos mit ihren Forderungen und ihren programmatischen Erklärungen weit hinter dem zurück, was Labour in den letzten zwei Jahren mühsam entwickelt hat.

Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert sorgte bisher lediglich mit seiner #NoGroKo-Kampagne für Furore. «Tritt ein, sag Nein!» lautete das Motto und forderte bundesweit zum massenhaften Eintritt in die SPD auf. Theoretisch war es möglich, für zehn Euro zwei Monate lang der Partei beizutreten, seine Stimme abzugeben, um sich dann wieder aus der Mitgliederliste streichen zu lassen. Da beschlich viele Bürger ein seltsames Gefühl. Immerhin hätten Nationalisten, Rassisten und das ganze rechte Lager diese Chance nutzen können, um eine Entscheidung von internationaler Tragweite zu beeinflussen.

Wie auch immer: Viel mehr als dieser Marketinggag ist von den Jusos nicht zu hören. In der Öffentlichkeit sind sie nicht mit einem eigenen Programm präsent, das eine Wende sozialdemokratischer Politik einleiten könnte – keine radikalen sozialen, ökonomischen oder friedenspolitischen Forderungen wie bei Labour. Und da wundert sich die Partei, dass ihre einstigen Mitglieder und Unterstützer ihnen das Wahlkreuz verweigern.
Im neuen Kabinett Merkel sind sechs Ministerien von Sozialdemokraten besetzt. Das Personal – wie gehabt: Kein einziger charismatischer Vordenker, fast sämtliche Wahlverlierer, dazu noch ein umstrittener ehemaliger Hamburger Oberbürgermeister als Vizekanzler und Finanzminister: Olaf Scholz. Er wurde seit dem G-20 Gipfel im Juli 2017 in der Hafenstadt zum Rücktritt gedrängt, aber dem Peter-Prinzip folgend, ist er mit dem neuen Amt gewaltig nach oben gefallen.

Während Merkels vierter Amtszeit wird sich möglicherweise auch die Zukunft der deutschen Sozialdemokratie entscheiden. Wobei es ein Irrglaube ist, anzunehmen, Merkel sei Schuld am Niedergang der SPD.

Die hat sich längst ihr eigenes Grab geschaufelt. Zum Schulterschluss mit Industrie und Banken waren die westdeutschen Genossen bereits vor der «Wende», dem Mauerfall, bereit – damals allerdings unter dem Mäntelchen der Sozialpartnerschaft. Den von Gerhard Schröder eingeleiteten und exekutierten Sozialabbau auf ganzer Linie werden die Stammwähler nicht so schnell vergessen können, spüren sie doch die Auswirkungen Tag für Tag. Ein wirklich mitreissendes, zukunftsorientiertes Gesellschaftskonzept verbirgt sich hinter der roten Nelke – dem Parteisymbol – schon lange nicht mehr. Wozu also dem Pflänzchen Wasser geben?