Voyeurismus, Ignoranz und Gewalt

Die Aufbereitung der „wilden Siebziger“ in den Medien stürzt sich gerne auf Exzesse oder was sie dafür hält und blendet das wirklich Interessante aus - auch das Buch des französischen Autors Alban Lefranc.

Hippies, Künstler und Studenten griffen teilweise zu harten Methoden, um die für die meisten unbewusste Fremdbestimmung in sich selbst und in der Gesellschaft zu bekämpfen. Mit Faszination und moralischer Distanzierung reagiert deshalb das bürgerliche Mainstream-Publikum auf die Themen „freier Sex“, „Drogen“ und „Terrorismus“. Bei LSD, Heroin und Co. werden typischerweise die Stoffe zum Problem gemacht, um die gesellschaftlichen Probleme aus dem Gesichtsfeld zu rücken, beim bewaffneten politischen Widerstand wird kräftig an der Brutalisierung und Entpolitisierung seiner Protagonisten gearbeitet.

Plattitüden und Schwülstigkeiten
Toll treibt es Alban Lefranc in seinem soeben deutsch übersetzt erschienen Buch „Angriffe“. Er schreibt darin über die Sechziger-/Siebziger-Jahre-Ikonen Rainer Werner Fassbinder, Bernward Vesper und Nico. Der Schaumschläger gibt gut verkäufliche Plattitüden, Verallgemeinerungen, Schwülstigkeiten und respektlose Fantasien als Literatur aus. Die Berliner Polithippies der frühen Siebziger klassiert der 1975 Geborene pauschal ab als eine Bande beschränkter, vergnügungssüchtiger Studenten.

Privatisierung der Motivationen
Andreas Baader zeichnet Lefranc (wie bereits Markus Imhoof 1986 in der Vesper-Verfilmung „Die Reise“) als gewalttätigen Crétin. Baaders und Ensslins Militanz findet er begründet in ihrer sozialen Ausgrenzung im Kindesalter als Folge eines Sprachfehlers bei beiden. Ulrike Meinhofs „blinde Wut“ ist für ihn wissenschaftlich belegt als Spätfolge einer Hirnoperation zu verstehen. Den Schriftsteller Bernward Vesper reduziert er auf ein Produkt aus dem übermächtigen Vater (Nazi-Schriftsteller Will Vesper) und aus einem Komplex gegenüber Gudrun Ensslin. Im Moment des Freitods unterstellt er ihm eine belanglose Wichsfantasie.

Aufgeblasene Projektionen
Den Filmregisseur Fassbinder versteht Lefranc noch einigermassen, geilt sich aber auch kräftig auf an Kokain, Blut, Rotz, Sperma und Unordnung. Am Respektlosesten treibt es der Autor mit den Frauen. Eine belästigt und erniedrigt er mit seinen sexuellen Fantasien: Er schreibt den Monolog eines Pornofilm-Regisseurs an die stumme Darstellerin Gudrun, die „zu kleine Titten, zu wenig Fleisch auf den Rippen und zu schmale Lippen“ habe, und, um diese Mängel zu kompensieren, „auch Ärsche lecken und bis zum Erbrechen Schwänze schlucken“ müsse. Christa Päffgen, die spätere Andy-Warhol-Künstlerin Nico, entgeht kurz nach Kriegsende knapp seiner verbalen Vergewaltigung, weil sie erst sieben Jahre alt ist.

Klischees und Körpersäfte
Über sich und seine Erfahrungen weiss er nichts zu berichten, er schändet lieber Tote. Klischees und Körpersäfte interessieren ihn, nicht die emanzipative Kraft von Nicos und Velvet Undergrounds Musik, nicht der Aufbruch einer Generation. Über Nico erfährt man in „Nico Icon“ wesentlich mehr und Differenzierteres. Susanne Ofterdingers Film hält sich nicht an Nazischlampen- und Junkieklischees, sondern zeigt ein breit angelegtes Bild der faszinierenden Künstlerin, die sich von Mainstream und Modeldasein verabschiedet hat, eigene Wege gegangen ist und europäische Musik in avantgardistische Popmusik integriert hat.

Mit klarem Blick
Bernward Vesper schreibt in seinem Romanessay viel über Felix, den gemeinsamen Sohn mit Gudrun Ensslin, mit dem er zusammenlebte. Er schaut mit klarem Blick in seine Kindheit der Vierziger Jahre, auf die religiöse Erziehung und Sexualunterdrückung, auf seine Beziehungen mit Gudrun Ensslin und anderen Frauen, verdaut. Analysiert mit marxistischer Bildung Gesellschaft, Wirtschaft, kollektive Psyche und die Naziideologie seines Vaters, die er sich jahrelang anhören musste und die er teilweise verinnerlicht hatte. Er erzählt von der patriarchalisch phantasierten Indianergeschichte „Tecumseh“ mit seinen brutalen Riten, geschrieben von einem Freund seines Vaters. Tecumseh überlebte das Dritte Reich und galt auch in der Bundesrepublik als pädagogisch wertvolle Jugendlektüre.

Ernsthaft und diszipliniert
Einen grossen Teil der nicht ganz abgeschlossenen „Reise“ bildet ein 24-stündiger Trip Vespers, der in Imhoofs entpolitisiertem Film ignoriert wird. Auch die LSD-Erlebnisse und -Erkenntnisse zeigen das Bild eines Menschen, der ernsthaft und diszipliniert bestrebt ist, sich von verinnerlichter Ideologie zu befreien, Bewusstsein und Solidarität zu entwickeln. Zuletzt nimmt er den Ausgang durch Selbstmord; Ignoranz und Gewalt der Menschenwelt sind ihm vermutlich schlecht bekommen.

db.

- Bernward Vesper: „Die Reise“, Romanessay, 708 S., März Verlag 1977 und Rowohlt Taschenbuch 1983

- Alban Lefranc: „Angriffe“, Drei Kurzromane über Fassbinder, Vesper, Nico, 323 S., Blumenbar Verlag 2008

- Susanne Ofterdinger: „Nico Icon“, TV-Dokumentarfilm 1995

- Markus Imhoof: „Die Reise“, TV-Spielfilm 1986

25. Oktober 2008
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