Kunstwerke zum Bewohnen aus Altmaterial
Die kreativsten Gebäude der Welt bestehen oft nicht aus neuen, sondern bereits gebrauchten Stoffen. Die Vielfalt dieser geschichtsträchtigen Bauten ist enorm, wie ein neuer Bildband zeigt.
Jeder Gegenstand hat eine Geschichte. Er entstand oder wurde hergestellt, wechselte die Gestalt, den Zweck und schliesslich den Nutzer. Man könnte über Stoffe ganze Monografien verfassen. Ein Stein oder Stück Holz bergen einen wahren Mikrokosmos an Zeitgeschichte und verbinden unser Jetzt mit den Jahrtausenden zuvor. Wenn wir uns mit ihnen umgeben, atmen wir den Geist der Erdgeschichte. Je länger und vielseitiger ein Stoff genutzt wird, desto mehr Geschichten entstehen um ihn.
Wr brauchen Trendsetter, die Wiederverwertung zum Industriestandard machen.
Auf der Suche nach Gebäuden, die solche Mythen in sich tragen, reiste die amerikanische Bloggerin und Lifestyle-Journalistin Antonia Edwards um die ganze Welt. Entstanden ist der Bildband «Upcycled Homes», der Bauten zeigt, die zum Grossteil aus wiederverwerteten Materialien bestehen oder deren hauptsächliche Bausubstanz ein bereits existierendes Gebäude ist. Immer mit dem Ziel, den Stil und somit die ureigene Stimmung der früheren Gebäude zu erhalten.
Hundertjährige Bäume wieder verwerten
Besonders gelungen ist dies bei der Ruine eines Kalksteinhauses aus dem 17. Jahrhundert auf einer schottischen Insel. Da der historische Bau auf sandigem Boden errichtet worden war, bekam er mit der Zeit Risse und stand seit Mitte des 19. Jahrhunderts leer. In nur sechs Monaten erschufen die neuen Besitzer ein bezugsfertiges Wohnhaus, dass die alten Mauern nutzt und dennoch den Charme der Ruine erhält. Dafür wurden ausschliesslich Materialien aus der Region verwendet, die mit kleinen Schiffen vom Festland herübergeschafft wurden.
Noch organischer präsentiert sich ein Baumhaus-Komplex im Stadtwald von Atlanta, Georgia. Die Unterkunft, die den 1. Platz im Airbnb-Ranking einnimmt, schwebt wie schwerelos zwischen den Bäumen. Ohne Pflanzen am Boden zu beschädigen, wurden die Gebäudeteile aus 100 Prozent Altholz erbaut mit der Vorgabe, dass sie mindestens so lange genutzt werden sollen, wie ihr Holz zum Wachsen brauchte. Das sind im Fall der benachbarten Kiefer 150 Jahre. Für den Bau von Häusern und Scheunen wurden oft teils hundertjährige Bäume gefällt. Der Erbauer der Unterkunft wollte dieses Material wiederverwerten. Denn «mithilfe von Altholz können wir Gebäude errichten, die sechsmal so lange halten wie die modernen, giftstoffhaltigen.»
Mehr Lebensqualität
Der Bildband regt dazu an, in grösseren Dimensionen zu denken und will Upcycling aus seinem Schattendasein herausholen. In Luling, Texas, ist ein ganzes Dorf mit Kleinsthäusern aus 95 Prozent Recycling-Materialien auf einem Areal von 17,5 Hektar entstanden: giftfrei, Ressourcen schonend, puristisch und günstig: Die einzigen Kosten entfielen auf Handwerker und Bauarbeiter. «Häuser zu 95 Prozent aus Altmaterialien zu bauen, sollte ein weltweiter Anspruch sein», sagt der Begründer des Bauprojekts Brad Kittel. Im Gegensatz zu Gebäuden aus Rigipsplatten, Beton und Stahl, gehe von Häusern aus organischen Materialien eine ganz eigene Energie aus. Die Bewohner schwärmten davon, dass sie tiefer schliefen, angenehmer träumten und sich besser fühlten. Seine Tiny Texas Houses sind wahre Kunstwerke, die aus hochwertigen Teilen alter Häuser und Möbeln für eine lange Nutzung gezimmert sind. Ob Waschbecken, Fensterrahmen oder Balkonbrüstung – Brad Kittel kennt die Geschichte zu jedem Stück. So verkauft er nicht nur Unikat-Häuser, sondern auch die Mythen, aus denen sie bestehen.
Aus der Not entstanden
Leider verzerrt der Perfektionismus von Designern und Architekten oft den Blick für den Ursprung des Upcyclings: Es waren arme Leute, die aus der Not heraus auf eigene Faust ohne Architekturbüro oder behördliche Genehmigung Neues schufen. Im Vordergrund stand der Nutzwert. Neben diesem ist heute vor allem die Nachhaltigkeit zentral. Materialien werden so wenig wie möglich bearbeitet und sollen möglichst lange halten. Den Persönlichkeiten hinter den Gebäuden im Bildband von Edwards ist dieser Aspekt besonders wichtig. Früher oder später wird uns die Müllproblematik über den Kopf wachsen. Deshalb brauchen wir Trendsetter, die Wiederverwertung zum Industriestandard machen. Und das zeigen die von Edwards vorgestellten Beispiele sehr gelungen: dass Wiederverwertung und Langzeitnutzung hochwertiger Materialien nicht selbstgebastelt aussehen muss und das Geschaffene durchaus langlebig sein kann – gerade wegen der verwendeten Materialien und der bestehenden Bausubstanz. So können die Mythen von gestern auch physisch das Fundament von morgen bilden.
Antonia Edwards: Upcycled Homes. Einzigartig, innovativ & nachhaltig wohnen. dva, 2017,
256 S., CHF 49.50/EUR 39.95. www.upcyclist.co.uk
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