Warum die Städte härter klingen
Blinde hören die Umgebung. Was sie mit den Ohren «sehen», beeinflusst auch die Wahrnehmung der Sehenden.
Für Blinde ist das Trottoir ein Parcours um Kundenstopper, Topfpflanzen und Restaurant-Mobiliar, das den Passanten vor die Nase gestellt wird, von den allgegenwärtigen Leihvelo- und Trottinett-Barrikaden nicht zu reden. Gleichzeitig haben Blinde als Erste gemerkt, wie trost- und gesichtslos viele Häuserzeilen in den Stadtzentren geworden sind, namentlich in den neu entstandenen Büro- und Gewerbezonen. Sie hörten den Klang härter werden.
Wer sich nicht auf den Sehsinn verlassen kann, sieht im metaphorischen Sinn wohl besser. Das Gehör ist, bewusst oder unbewusst, für die meisten von uns ein feinerer Sinn als das Sehen. Die Brutalität oder auch nur Banalität der gebauten Umwelt ist hörbar, selbst wo das Auge die Reizlosigkeit ausblendet.
Dass sich immer mehr Leute über Ohrpfropfen mit einer alternativen Tonspur verbinden, ist vor diesem Hintergrund verständlich. Auf dem Arbeitsweg und beim Jogging den O-Ton auszublenden, ist aber mehr als nur die Wahl eines bekömmlicheren Hörmenüs. Es ist auch die Entscheidung: Alles, was um mich herum passiert, geht mich nichts an, ich bin auf meiner eigenen Spur. Normalsichtige unterschätzen ihr Gehör als Wegweiser leicht. Mutwillig sollte man die akustische Orientierung nicht abgeben.
Was den Gang durch die Innenstädte unangenehmer macht, ist nicht der Pegel der Umgebungsgeräusche, der vielerorts rückläufig ist. Es ist der Widerhall von den grossflächigen und einförmigen Gebäudehüllen und den vegetationsfreien, fassadenbündigen Bodenbelägen. Der Wechsel von Holz, Sandstein, verputztem Backstein und Klinker, zu Beton, Marmor, Aluminium und Glas, der Ersatz von Kies und Kopfstein durch Kunststeinparkett hat die Tonspur verändert, und sie ist nicht weniger gefühlsbestimmend als im Kino. Die Erkenntnis, dass das Auge mitisst, ist uns allen vertraut. Dass aber das Ohr mitschaut, ist uns weniger bewusst. Wenn wir einen Filmsoundtrack hören, entstehen die zugehörigen Bilder unmittelbar vor unserem geistigen Auge.
Aber auch offene Ohren nehmen nur den kleinsten Teil des Stadtklangs bewusst wahr, sie können die baulichen Veränderungen daher nicht erkennen und nicht deuten. Es ist deshalb aufschlussreich, der Stadt hin und wieder aus verschiedenen Perspektiven mit geschlossenen Augen zuzuhören. Der harte Klang rührt nämlich von der Glättung der gebauten Umwelt, der konsequenten Versiegelung des Bodens und dem Verschwinden grosser Bäume, Hecken und allem unbotmässigen Grün her. Die mehrfache Reflexion an Hochglanz-Fassaden produziert einen verwirrenden, unangenehmen Klang.
Die Planungs- und Unterhaltsstellen treiben die Normierung des Stadtbildes voran. Sie fällen grosskronige Strassen- und Parkbäume unter dem Vorwand der Sicherheit und ersetzen sie durch licht- und schalldurchlässige, kaum Schatten werfende Liliputbäumchen. Das gibt dem öffentlichen Raum den Rest.
Mehr zum Thema «weich | hart» im Schwerpunktheft 159
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