In der Ferne dir so nah

In einer Fernbeziehung leiden Liebe, Nähe und Verbundenheit. Doch Distanz hat auch etwas Gutes. Wir lernen zu reden und mit uns selbst zu leben.

Ein Montagabend im November. Konfetti vom jährlichen Berner Zibelemärit kleben mir noch in den Haaren, während ich es mir im Nachtzug bequem mache. Vor ein paar Stunden telefonierte ich mit P. Sie war aufgelöst und ich fühlte mich hilf- und nutzlos. Ich hier und sie dort, getrennt durch hunderte Kilometer und diverse Alpentäler. Ein paar schlaflose Stunden später umhüllt mich in Salzburg die Kälte. Es ist morgens um halb vier und P. empfängt mich freudig auf dem Perron.

Nachtzüge, Flughäfen, freudiges Wiedersehen, immer wieder erste Küsse und letzte Umarmungen. Das kennen alle, die eine Fernbeziehung durchgemacht haben. Manche treibt ein Auslandssemester in die Ferne, andere können oder möchten ihren Arbeitsort nicht aufgeben und pendeln am Wochenende zur geliebten Person. Und viele sind als ausgebeutete Wanderarbeiterinnen in der ganzen Welt unterwegs, weit weg von der Familie. Die Einsamkeit ist immer im Gepäck. Wir sind auf uns alleine gestellt, wo wir doch in der Beziehung nach Halt und Beistand suchen.

Wer tut sich das freiwillig an? P. meint diplomatisch, dass unsere vier Jahre Fernbeziehung «nicht optimal» waren. Nicht zuletzt beschränkt sich die körperliche Nähe auf unregelmässige Inseln der Zweisamkeit. Kaum ist der Zug am Horizont verschwunden, ist das Kissen kalt, das Nachtessen einsam. Nur ein gebrauchtes Kleidungsstück verbreitet dann noch einen Hauch von Verbundenheit. Und weil sich viel vom Leben im Alltag abspielt, verpasst man ständig etwas: das neu eröffnete Café um die Ecke, die kleinen Erfolge bei der Arbeit, gemeinsames Spazieren im Wald. Es ist ein Leben in zwei Welten, verbunden durch Fasern aus Telefonaten und Briefen.

Im Alltag offenbaren sich jedoch die zwei Gesichter der Fernbeziehung. Zugegeben: Es ist schwierig, wenn der eine auf Reisen jeden Tag neue Erfahrungen macht, neue Menschen trifft, neue Sinne und Fragen entdeckt, während sich die andere zu Hause wie ein Kreisel um sich selbst dreht. Gemeinsame Routinen stiften Sinn und verbinden zwei Menschenleben. Nicht umsonst sagt der Philosoph Wilhelm Schmid, die Liebe entscheide sich im Alltag, «in diesem Hamsterrad, das nicht sehr aufregend ist».

Das mag für Romantikerinnen und Romantiker ernüchternd sein. Doch der Alltag ist immer auch eine Quelle von Frust und Ärger, der sich in der Beziehung ablädt. Hinzu kommt, dass Alltägliches furchtbar reizlos ist. Für Schmid ist das die grosse Tücke der romantischen Liebe, «weil ihr der Alltag entgegensteht, in dem die Gefühle schwinden».

Paradoxerweise liegt hier die Chance für die Fernbeziehung. In Abwesenheit der anderen Person lernen wir, mit unserem Dreck selbst fertig zu werden, statt ihn bei anderen zu deponieren. So können wir in der Ferne auch als eigenständige Menschen wachsen. Wir lernen uns selber kennen und merken, was uns eigentlich guttut. Ohne die ständige Stütze der anderen müssen wir eigene Strategien gegen Schwierigkeiten und Hürden entwickeln. Gleichzeitig wissen wir: Im Notfall, wenn alle Stricke reissen, ist jemand da – auch wenn es ein paar Stunden dauert.

Natürlich lauern wie in jeder Beziehung links und rechts Konflikte. Vor allem die Kommunikation ist eine Knacknuss und in der Fernbeziehung mutiert das Smartphone oft zum einzigen verbindenden Element. In seinem schwarzen Spiegel tritt die Stimmung zu Tage, aus seinen Lautsprechern spricht die Sehnsucht. Es ist ein miserabler Ersatz für Nähe, ein groteskes Placebo für Unterstützung. Doch wer sich nur durch verpixelte Bilder und abgehackte Gesprächsfetzen begegnet, muss dieser Schnittstelle umso mehr Energie widmen.

Es ist dann wie im Lied «Keep Talking» von Pink Floyd: «What are you thinking? What are you feeling?» Solche Fragen werden in der Ferne zu Übungen in Selbstkenntnis und empathischer Kommunikation. Und diese Updates, ohne die eine Beziehung bedeutungslos wird, werden zu Leuchttürmen der Beziehung. Damit zwei Liebende sich auch über die Distanz noch wirklich sehen, noch wirklich spüren, müssen sie diesem «fundamentalen
Aspekt der Intimität», wie es die Soziologin Eva Illouz nennt, besonders viel Aufmerksamkeit widmen. So wird die Probe in der Ferne oft zum Zement, der vielen anderen fehlt.    

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31. Mai 2019
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