«Die Polizei lässt bewaffnete Zivilisten einfach gewähren»
Kolumbien befindet sich seit mehr als einem Monat im Ausnahmezustand. Doch wie sieht der Alltag für die Menschen wirklich aus?
Genauso wie die Erhöhung der Ticketpreise in Chile vor eineinhalb Jahren der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte, kippte die Stimmung in Kolumbien Ende April, als Staatspräsident Iván Duque eine Steuerreform ankündigte, die unter anderem eine höhere Mehrwertsteuer auf Produkte des täglichen Bedarfs vorsah. Die Reform ist zwar inzwischen vom Tisch, doch der landesweite Generalstreik hält weiter an – und wird mit massiver Polizeigewalt unterdrückt. Laut dem Institut für Entwicklungs- und Friedensstudien Indepaz wurden bis am 31. Mai 71 Menschen getötet, der Grossteil davon durch Sicherheitskräfte. Die kolumbianische NGO Temblores dokumentierte bis zum 27. Mai 1133 gewaltsame Übergriffe, 175 Fälle von Schusswaffengebrauch und 1445 willkürlichen Festnahmen durch die Polizei.
In den Nachrichten sehen wir Bilder von Toten und Verletzten. Doch wie geht es den Menschen vor Ort, welche Auswirkungen hat die prekäre Situation auf ihren Alltag? «In Tumaco sind die Proteste bisher ziemlich friedlich verlaufen», sagt Ulrike Purrer, die seit 9 Jahren in Kolumbien lebt. «Was mir jedoch Sorgen macht, ist dass wir noch stärker von der Aussenwelt abgeschnitten sind als sonst», sagt Purrer. «Ich war vor ein paar Tagen im Zentrum, um einzukaufen, und die Regale leeren sich immer mehr. Seit vier Wochen kommen keine Lebensmittel mehr nach Tumaco, und Produkte wie Gemüse, Fleisch, Eier oder Milch sind schon längst ausgegangen. Doch jetzt findet man auch kaum noch Grundnahrungsmittel wie Teigwaren, Reis oder Kekse. Ich weiss nicht, wie lange wir das noch durchhalten. Die wenigen Lebensmittel, die es noch gibt, sind vollkommen überteuert, und die meisten können sich das nicht leisten.»
Ganz anders sieht die Lage in Popayán aus, einer Stadt im Südwesten des Landes. «Popayán ist nebst Cali zu einem der grössten Brennpunkte des Konflikts geworden», sagt Henning Weber (Name der Redaktion bekannt), der seit drei Jahren in der Hauptstadt des Departements Cauca lebt. Die Graswurzelorganisation, bei der er arbeitet, dokumentiert unter anderem Menschenrechtsverletzungen in indigenen Territorien und ist dadurch zur Zielscheibe sowohl von staatlichen Stellen als auch von bewaffneten Gruppierungen geworden. Seit Beginn der Proteste wurden mehrere ihrer Mitglieder angeschossen – und zwar nicht nur in ländlichen Gebieten, sondern auch mitten in der Stadt.
«Einer 23-jährigen Arbeitskollegin von mir wurde zwei Mal in den Bauch geschossen, sie hat nur knapp überlebt», erzählt Weber. «Wir müssen davon ausgehen, dass es ein gezielter Angriff auf sie als Mitarbeitende unserer Organisation war. Das Schlimmste dabei ist jedoch, dass drei Meter daneben Polizisten standen, die in keinster Weise eingegriffen haben.» Dies sei charakteristisch für das Verhalten der Sicherheitskräfte, so Weber. In verschiedenen Fällen, die teilweise auch auf Video festgehalten sind, hat sich gezeigt, dass die Polizei bewaffnete Zivilisten einfach gewähren lässt – wobei es auch sein könnte, dass es sich um Zivilbeamte handelt.
Doch auch wenn die meisten Medien nur Schreckensbilder aus Kolumbien verbreiten, sind die Menschen äusserst kreativ, wenn es um friedliche Formen des Protestes geht. Die kolumbianische NGO «Fundación Chasquis» hat eine Reihe von Kurzvideos erstellt, die Einblick in die Strassen Bogotás geben. Die Videos sind alle deutsch untertitelt und können hier angesehen werden.
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