Ein Schlaraffenland voller Musik. Kostenlos – Wie ich für die Plattenfirmen auf einmal wichtig wurde
Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #9
Schon bald ein Jahr schrieb ich über die neue Musik – doch ein richtiger Musikrezensent war ich noch nicht. Die Plattenfirmen wussten noch nichts von mir, sonst hätten sie mich mit Informationen und Presseexemplaren beliefert. Ich aber glaubte noch immer, dass ich nur eine Möglichkeit hatte, neue Alben und Bands zu entdecken: Entweder, ich nahm sie direkt vom Radio auf meinen Kassettenrecorder auf – oder ich hörte die Platten im Laden.
Eingereiht neben gleichgesinnten anderen Popmusikfans, sass ich an der Schallplattentheke bei «Jecklin» am Bahnhof, die beiden telefonhörerähnlichen Kopfhörer an die Ohren gepresst, und lauschte mit kritischer Miene dem ersten Stück. Zum nächsten Titel wechseln konnte ich nicht, eine andere Platte auflegen auch nicht, denn die Plattenspieler befanden sich unerreichbar hinter der Theke und durften nur vom Verkaufspersonal bedient werden. Natürlich stellte ich mir gleich mehrere LP's zusammen, bevor ich zur Theke ging. Hätte ich mir nach jeder Platte die nächste geholt, wäre mein Platz an den Plattenspielern inzwischen besetzt gewesen. Denn die Plätze waren beschränkt und dementsprechend begehrt.
Aus gewissermassen beruflichen Gründen musste ich in möglichst viele neue Alben hineinhören können. Damit war die Verkäuferin hinter der Theke aber nicht einverstanden. Nachdem sie mir ein weiteres Mal eine ganze Stunde lang eine LP nach der andern hatte auflegen müssen, wollte sie wissen, ob ich nun eine davon zu kaufen gedächte. Als ich ihre Frage verneinte, konnte sie die Bemerkung nicht unterlassen, die Platten seien zum Kaufen da. Das musste sie sagen, denn solche wie mich, die stundenlang ohne Geld in der Tasche Musik konsumierten, gab es viele. Sie besetzten die Plätze seriöser Kunden, die tatsächlich Platten kaufen wollten.
Lange konnte ich das nicht durchziehen, weder bei «Jecklin» am Bahnhof noch in den anderen Läden, die ich abwechslungsweise aufsuchte. Irgendwann brachte ich der Verkäuferin deshalb die «Woche» und zeigte ihr meinen neuesten Beitrag. Auch der Geschäftsführer trat hinzu, und sogleich verbesserte sich mein Status.
Von da an durfte ich Platten à discretion hören. Ich durfte sogar eine der Kabinen benutzen, die für besonders Kauffreudige reserviert waren. Ungestört konnte ich dort LP für LP selber auflegen. Wenn mir andere junge Kunden einen neidischen Blick durchs Kabinenfenster zuwarfen, sahen sie mich eifrig und demonstrativ Notizen machen. Da wussten sie, dass ich kein normaler Popmusikfan war. Ich musste jemand vom Fach sein.
Eines Tages dann ermutigte mich die Redaktorin der «Woche», die mich betreute, einen Schritt weiterzugehen. Ich meldete mich bei der Schweizer Vertretung einer der grossen Plattenfirmen, stellte mich mit meiner Kolumne vor und bat um ein Besprechungsexemplar für ein neu erschienenes Album. Dieses Telefon war für mich wie ein Sesam öffne dich zu einem Schlaraffenland, wo alle Musik auf mich wartete, die ich begehrte. Kostenfrei.
Bald schon waren die Plattenfirmen so nett, mir jede Platte zu schicken, die ich eventuell zu besprechen gedachte. Bald erhielt ich auch Platten, die ich gar nicht bestellt hatte. Ich merkte, dass ich für die Branche auf einmal wichtig geworden war und fühlte mich sehr erwachsen. Für einen unausgereiften Teenager war das nicht unbedingt vorteilhaft. Ich definierte mich zu früh und zu sehr über meine öffentliche Aktivität. Für mein berufliches Selbstbewusstsein jedoch war es hilfreich.
Nachdem mir die Plattenfirmen nun offen standen, war es Zeit, auch die Tür der Konzertveranstalter aufzustossen. Für Konzerte, auf die ich in meinem Popcorner hinwies, wollte ich keinen Eintritt mehr zahlen. Ich fand, ich hatte Anrecht auf eine Pressekarte. So gelangte ich nach und nach auf die Listen der Konzertagenturen, die 1969 freilich noch in den Anfängen standen. Doch die Auftritte englischer und amerikanischer Bands häuften sich auch in der Schweiz. Und ich war dabei – niemals mitten im Publikum, stets ein wenig am Rande stehend, kritisch zuhörend und beobachtend, auch wenn ich in meinem Herzen ein Fan blieb.
Eines aber fehlte mir noch in meiner jungen, hoffnungsvollen Karriere als Musikrezensent: die erste reale Begegnung mit einem Popstar. Davon mehr in einer Woche.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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