«Russland hat ein Potential von 144 Mio. Menschen, davon über 30 Mio. Reservisten. Diesen stehen 35 Millionen Ukrainer gegenüber.»

Der im Westen propagierte Kollaps der russischen Streitkräfte in der Ukraine ist eine Illusion, publiziert Oberst Dr. Marlus Reisner auf der Webseite des österreichischen Bundesheers in einer profunden Analyse
Veröffentlicht: 3. Nov 2022 - Zuletzt Aktualisiert: 3. Nov 2022

Nach über 250 Tagen ist die Lage im Krieg um die Ukraine von weiteren verheerenden Eskalationen geprägt. Dazu zählen in den letzten Wochen mehrere gegenseitig durchgeführte spektakuläre Angriffe. Diese lassen erkennen, dass eine Befriedung des Konflikts in naher Zukunft ausgeschlossen werden kann. Die größte Gefahr für den Westen und hier vor allem für Europa liegt darin, den Konflikt mit Russland um die Ukraine zu unterschätzen. Das österreichische Bundesheer publizierte eine Analyse von Oberst Dr. Markus Reisner. Wir bringen Auszüge.

 

«Die seit dem 10. Oktober laufenden Angriffe der russischen Seite auf die kritische Infrastruktur der Ukraine haben immer schwerere Zerstörungen zur Folge. Im nun folgenden Winter kann dies verheerende Auswirkungen auf die Ukraine haben. Deren Fähigkeit, den Abwehrkampf weiter fortführen zu können ist gefährdet. Die in der Ukraine verbliebenen 35 Millionen Menschen stehen vor einem harten Winter mit ungewissem Ausgang.

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Es gelang zwar Gelände und militärisches Gerät in Besitz zu nehmen, aber nicht tausende russische Gefangene zu machen. Erst Letzteres würde zu einem 'K.O.' bzw. einem Zusammenbrechen führen. Aus dem Raum ostwärts Charkiv wurden z. B. von der ukrainischen Seite in der Stadt Lyman 'über 5.000 eingekesselte russische Soldaten' vermeldet. Zu deren Gefangennahme ist es aber nicht gekommen. Die zweite Offensive in Cherson war in der Vorbereitungsphase von schweren ukrainischen Verlusten durch russische Artillerie geprägt. Trotzdem gelang es den ukrainischen Streitkräften, an drei Stellen anzugreifen und den nordöstlichen Brückenkopf einzudrücken. Allerdings gelang den Russen auch hier der Rückzug in Richtung Südwesten. Nun kommt ihnen die beginnende Schlammperiode (Razputiza) zur Hilfe.

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Das im Westen kolportierte Narrativ, dass insgesamt nur 20% der russischen Angriffsmittel ihre Ziele treffen, kann in Anbetracht der seit dem 10. Oktober zerstörten Infrastruktur nicht aufrecht erhalten bleiben. 

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In den letzten Wochen häuften sich auch überregionale Vorfälle. Darunter die Zerstörung von drei der vier NS1- und NS2-Pipelines. Obwohl Russland sofort auf den Westen als Verursacher hinwies, ist folgende Tatsache interessant: Einige Zeit nach dem Angriff kam das russische Angebot, dass man durch eine unbeschädigte NS2-Leitung doch noch lieferfähig wäre. In Folge kam es zu weiteren interessanten Vorfällen. Dazu zählen Sabotageakte gegen die deutsche Bahn und unterbrochene Unterseekabel im Mittelmeer und im Nordatlantik. Des Weiteren Probleme bei der Stromversorgung auf der Insel Bornholm und die Festnahme eines mutmaßlichen russischen Spions in Norwegen. Gerade Norwegen hat für Europa eine hohe Bedeutung, denn der Ausfall russischer Ressourcenlieferungen soll gerade durch die norwegische Rohstoffproduktion kompensiert werden. So passt es ins Bild, dass Norwegen am 31. Oktober seine Streitkräfte in erhöhe Alarmbereitschaft versetzte. Diese Ereignisse zeigen, dass der Konflikt in der Ukraine zunehmend auch eine überregionale Dimension bekommt. Es erscheint daher als sehr wahrscheinlich, dass Russland versucht, den Druck auf die europäische Bevölkerung durch hybride Angriffe zu erhöhen. [...]

Russland versucht zudem weiterhin strategische Allianzen zu schmieden. Ein eindeutiges Zeichen dafür war der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas. Russlands Außenminister Lawrow und der chinesische Außenminister Wang Yi ließen in Folge mit einer gemeinsamen Presseerklärung aufhorchen. In dieser war zu lesen: '… China werde Russland unter Führung von Präsident Putin nachdrücklich dabei unterstützen, das russische Volk zu vereinen, um Schwierigkeiten und Störungen zu überwinden und den Großmacht-Status Russlands weiter zu stärken', sowie, dass '… jeder Versuch (des Auslands), China und Russland an ihrem Vormarsch zu hindern, zum Scheitern verurteilt ist.' Russland ist fest entschlossen, diesen Krieg weiter voranzutreiben. Solange in Russland kein 'Oktober 1917'-Effekt eintritt, wird es den Kampf weiterführen. Es mag einem schwer fallen, dies zu glauben, aber Vieles deutet exakt in diese Richtung. Russland hat ein Potential von 144 Mio. Menschen, davon über 30 Mio. Reservisten. Diesen stehen 35 Mio. Ukrainer gegenüber. Hier erfolgt bereits die fünfte Mobilisierungswelle, d. h. jeder bis zum Alter von 60 Jahren wird eingezogen.[...]»