Die Tage von Selenski

Wenn sich der Westen in der Ukraine als Sieger darstellen will, braucht er einen Verlierer. Es kann nicht Putin sein. Von Christoph Pfluger
Veröffentlicht: 30. Nov 2022 - Zuletzt Aktualisiert: 30. Nov 2022

Die Ukraine produziert gerade nicht sehr viele Schlagzeilen – ein deutliches Zeichen, dass sich Entscheidungen vorbereiten. Vermutlich steht ein Strategiewechsel bevor. Der Westen muss sich entscheiden: Soll er weiterhin seine eigene Bevölkerung darben lassen und all seine Ressourcen in den Krieg in der Ukraine werfen, nur, um die unvermeidliche Niederlage hinauszuschieben? Oder will er tatsächlich einen Ausweg aus der Sackgasse finden. Ein solcher wäre leichter, wenn der Westen mit eineer angeblichen Überlegenheit nicht derart geprahlt hätte.

Trotz neun Monaten fortwährender ukrainischer Siege und russischer Probleme aller Art, kann sich die Ukraine gegen die Zerstörung der zivilen Infrastruktur nicht mehr zur Wehr setzen. Das Ende naht – und damit die Niederlage des Westens gegen das seit Jahrzehnten verspottete Russland, eine «Regionalmacht» in den Worten von Barack Obama, die aus Schwäche andere bedrohe.

Jetzt merkt der Westen langsam, dass die Schwäche ganz woanders liegt, nämlich bei ihm selber. Und das darf natürlich nicht sein. Also braucht es einen Schuldigen. Er wird nicht nur die Verantwortung für die Tragödie in der Ukraine übernehmen müssen. Er wird auch dafür verurteilt werden, dass er den Westen belogen hat. Denn nur wegen dieser Lügen hat der Westen verloren – das wird die Botschaft sein.

Wie wird es weitergehen? Seit August wächst der informelle Druck auf Selenski, mit Russland zu verhandeln. Das kann er aber nicht, weil er es sich praktischerweise per Dekret verboten hat.

Auch die Taten des Westens sprechen nicht gerade für eine nachhaltige Unterstützung des Krieges. Zu seiner kürzlichen Visite in Kiew kam der neue britische Premier zwar mit netten Worten, aber mit leeren Händen. Gerade mal Waffen im Wert von 50 Mio. Pfund war das Mitbringsel aus Grossbritannien, wo bis vor kurzem noch die Oberscharfmacher Boris Johnson und Liz Truss herrschten.

Bei einem Kriegsverbrauch der Ukraine von bis jetzt rund 60 Mrd. Dollar oder 220 Mio. pro Tag, reicht die milde Gabe von Rishi Sunak gerade mal für ein paar Stunden. Bei einem nächsten Mal wird es westliche Forderungen nach Verhandlungen geben, die gefälligst Selenski zu führen hat. Je länger Selenski sie ablehnt, desto besser – paradoxerweise – für den Westen. Dieser wird dann den Tatbeweis in der Hand haben, dass Selenski dem Rat des Westens nicht gefolgt ist.

Ist Ihnen die Pause bei den russischen Raketenangriffen der letzten Tage auch aufgefallen? In Moskau hat man offenbar plausible Gründe, auf ein Verhandlungssignal aus dem Westen zu warten. Der direkte Draht zwischen den Kontrahenten in Washington und in Moskau ist ja noch nicht vollständig abgebrochen.

Wenn nicht bald ein deutliches Zeichen kommt, wird es weitere Salven geben, die ein zusätzliches Stück Ukraine in Kälte und Dunkelheit versinken lassen. Die Verhandlungstür wird sich dann abermals öffnen und den Blick auf Selenskis fatales Dilemma freigeben:

Entweder er akzeptiert die russischen Gebietsgewinne und einiges mehr und wird als Looser entsorgt oder er führt den zerstörerischen Krieg fort und wird von den echten Militärs weggeputscht, die es in der Ukraine zweifellos noch gibt. Oder er wird vom Westen  ganz fallengelassen oder vom eigenen Volk zur Hölle geschickt. Oder alles zusammen.

Es wird gefährlich im Führerbunker in Kiew. Ob Selenski dann nach Florida flüchten darf, ist unwahrscheinlich. Damit der Westen sein Gesicht wahren kann, muss Selenski seines verlieren. Und möglicherweise sein Leben dazu. Das erleichtert die Kontrolle über die Vergangenheit und das Narrativ.

Damit der Westen gewinnen kann, muss also Selenski verlieren. Dann können die USA das tun, worin sie schon immer die Besten wahren: einen Krieg verlieren und den Sieg erklären. Es ist gelungen, die russische Expansion zu stoppen, wird dann zu hören sein. Und wenn Selenski nicht so ein verlogener und beratungsresistenter Clown gewesen wäre, hätte man Russland besiegt. (Damit wird gleichzeitig die Fortsetzung des Krieges mit neuem urkainischem Führungspersonal gesichert).

Aber die Siegesfreude wird nicht lange dauern. Denn Europa, wo bereits die Flüchtlinge aus den US-Kriegen in Afghanistan, im Irak, in Syrien, in Libyen und anderen afrikanischen Ländern die Heime füllen und die öffentlichen Kassen leeren, dieses Europa wird von Millionen von Flüchtlingen aus der Ukraine überschwemmt werden.

Maxim Timchenko, Chef der ukrainischen Energiefirma DTEK und hoch gelobt vom Word Economic Forum, empfiehlt seinen Landsleuten, sich für ein paar Monate ein warmes Plätzchen in einem anderen Land zu suchen. Sie sollten das Verlassen ihres Landes als Hilfe für den Sieg gegen Russland betrachten – die Flucht zum Sieg!

Man wird die ukrainischen Frauen nicht so leicht wieder nach Hause schicken können, denn dort herrscht ja der böse Russe, der den Soldaten Viagra als Waffe abgibt – eine der verrücktesten Fake-Geschichten aus den PR-Fabriken des vereinigten Westens.

Wie das winterkalte und keineswegs geeinte Europa mit einer Millionenwelle von Flüchtlingen fertig werden will, wissen wir nicht. Was wir wissen, ist, dass sie noch zu verhindern wäre, indem einer der westlichen Führer nach Moskau fahren, sich an Putins langen Tisch setzen und den Bann der westlichen Selbstüberschätzung brechen würde. Ob es auch passiert? Ich glaube nicht. Selbstüberschätzung korrigiert sich durch Fall, nicht durch Erkenntnis.

Was uns an dieser Tragödie so erschüttern muss, ist der Verlust der Menschlichkeit. Alles, was Russland wollte, war Sicherheit für seine Leute im Donbass (Minsk II) und die Neutralität der Ukraine. Nur: Die Forderungen schienen dem Westen so unerhört, dass er in einen Krieg schlitterte, den einige Falken in Washington vermutlich schon lange wollten.

Nach neun Kriegsmonaten scheint dieses Ziel in die Nähe zu rücken. Es wäre wesentlich leichter und ohne Verluste zu erreichen gewesen. Und, auch das muss gesagt sein: Es könnte auch ganz anders kommen.