«Das hatte nichts mit sauberen wissenschaftlichen Spielregeln zu tun»

Stanford-Professor Ioannidis redete mit Cicero-Autor Ernst Timur Diehn über die Corona-Pandemie. Wir bringen exklusive Auszüge.
Veröffentlicht: 16. Dec 2022 - Zuletzt Aktualisiert: 16. Dec 2022

Der renommierte Medizin-Professor John Ioannidis warnte angesichts mangelnder Daten und qualitativ schlechter Studien bereits in der frühen Phase der Corona-Pandemie vor überstürzten politischen Entscheidungen. Im Cicero-Interview mit Ernst Timur Diehn kritisiert er, dass Influencer und Politiker den Takt der kollektiven Hysterie von Beginn an auf Kosten wissenschaftlicher Spielregeln vorgaben. Auszüge: 

«Herr Ioannidis, seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie erleben wir eine Art Crash-Test für die Gesellschaft und das Wissenschaftssystem. Wissenschaftler wurden zu Medienstars, gleichzeitig wurde wissenschaftliches Handeln politisiert. 

Fast schon zeitgleich zum Ausbruch der Pandemie erlangten einige wenige, medienaffine Wissenschaftler eine enorme Sichtbarkeit. Plötzlich wurden Wissenschaftler öffentlich heroisiert oder dämonisiert, sie wurden von ihren eigenen Anhängern auf Social Media verteidigt, von anderen wiederum wütend angegriffen und diffamiert. Dies trug zur Überhitzung der eigentlichen wissenschaftlichen Debatte mit bei[...]

Wenn eine Krankheit auftaucht, die große Teile der Bevölkerung töten könnte, haben plötzlich alle ein gefühltes Mitspracherecht und sehr viele neigen schnell dazu, starke Positionen einzunehmen. 

Das ist menschlich nur allzu verständlich. 

Ja, aber gerade dann, wenn wir vor einer akuten neuen Herausforderung stehen, ist es entscheidend, einen offenen, fair abwägenden Diskurs aufrechtzuerhalten. Das klappt nur, wenn sich eine unterschiedliche Vielzahl von wissenschaftlichen Experten mit ihren Positionen zu Wort melden können. Diese müssen gleichwertig betrachtet und abgewogen werden. Leider ergriffen auch Leitmedien oft zu früh und zu einseitig Partei, ohne dabei zu reflektieren, wie Wissenschaft funktioniert. Das Ergebnis: Unsere Reaktion auf die Pandemie führte über Nacht zu einer beängstigenden neuen Form des wissenschaftlichen Universalismus.

[...]

Und Sie glauben, eine wichtige Ursache für die enorme Emotionalisierung war, dass einige wenige Stimmen aus der Wissenschaft zu schnell zu prominent gemacht wurden? 

Es wurde eine neue Elite von „Medienwissenschaftlern“ erschaffen, die sofort unter dem Druck stand, jeden Tag zu allen möglichen komplexen Aspekten der Krise etwas Überzeugendes sagen zu müssen.

[...]

Stattdessen wurde entschlossen gehandelt, es wurden Maßnahmen umgesetzt. 

Wir haben die Lockdowns verhängt und das Projekt Zero Covid als strategisches Ziel gesetzt, ohne, dass man hierzu vorher eine einzige randomisierte Studie durchgeführt hat. Alles was nötig war, um Maßnahmen von solch extremer Reichweite zu beschließen, waren einige Experten in den Leitmedien, dazu Politiker und Influencer mit großer Reichweite in den sozialen Medien Tag für Tag in einer Art Endlosschleife, die insgesamt einen Dominoeffekt geschaffen hat. Jetzt – zwei Jahre später – kratzen wir uns am Kopf und fragen uns: Wie konnte es soweit kommen? Von diesen Strategien, die als „alternativlos“ dargestellt wurden, davon steht nichts in unseren Lehrbüchern, das war nicht das, was frühere Studien überhaupt suggerierten. Das hatte alles praktisch nichts mit sauberem wissenschaftlichem Konsens zu tun.

[...]

Sie haben Morddrohungen erhalten. Und wegen Ihrer Studienergebnisse wurden Sie von Medienvertretern in einigen Ländern als „links“ und in anderen Ländern wiederum als „alt-right“ einsortiert. 

Wäre ich weniger bekannt gewesen, hätte es noch schlimmer kommen können. Für seriöse Wissenschaftler stellte sich doch die Frage: Können wir uns dieser außer Kontrolle geratenen Debatte überhaupt noch anschließen? War es eine gute Idee, mit exakten Wahrscheinlichkeiten und Messunsicherheiten noch publik zu gehen? Machte es noch Sinn, sich gegen Journalisten zur Wehr zu setzen, wo diese sich dafür entscheiden, Aussagen zu färben, sogar zu verfälschen, nur damit diese in ihr Schema passten? Hervorragende Forscher sahen sich gezwungen, mitten in diesem Chaos ihre Stimme verstummen zu lassen.»

John Ioannidis ist Professor für Medizin, Epidemiologie und biomedizinische Datenwissenschaft an der Stanford-University und gehört zu den zehn meistzitierten Wissenschaftlern der Welt. Als BIH-Gastprofessor an der Charité baut Ioannidis derzeit in Berlin das „Meta Research Innovation Center Berlin“ („METRIC B“) auf. 

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