Ukraine, Israel … zwei Kriege, eine Dynamik

Stichworte für einen Versuch, hinter die Tagesgräuel zu blicken.

Selenski und Netanyahu bei einer Begegnung in New York 2019. Foto: Creative Commons

Krieg in der Ukraine, Krieg in Israel, das sind zwei auseinander liegende Kriegsschauplätze, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Aber so unterschiedlich die Vorgänge in der Ukraine und in Israel zu sein scheinen, so vergleichbar sind doch ihre Dynamiken als nationalistische Extreme einer nachholenden Nationenbildung – nur zu verstehen als Ausdruck des in die Krise geratenen US- Globalismus und seiner Vorgeschichte.

Die Krise des Globalismus, das ist die Krise des Kolonialismus über drei Etappen: erster Weltkrieg – Überführung der Kolonien in abhängige Nationalstaaten; zweiter Weltkrieg – ethnische «Säuberungskriege» im Zuge der nachkolonialen Neuordnung; Israel entwickelt sich zum ethnischen Stosskeil des «Westens» auf palästinensischem Boden; schliesslich: Kalter Krieg – Auseinanderfallen der Sowjetunion und ungehemmtes Hervortreten der USA als «Einzige Weltmacht», wie am klarsten von Zbigniew Brzezinski beschrieben.

Die Decke des Globalismus, unter der die USA nach dem kalten Krieg das Erbe der zusammengebrochenen Sowjetunion auf Dauer zu übernehmen gedachten, reisst heute im Zuge einer vierten, möglicherweise endgültigen Welle der Entkolonialisierung auf. Diese Entwicklung bringt neue Kräfte hervor, gestärkt von gewachsenem Selbstbewusstsein der ehemaligen Kolonien unter der Perspektive einer zukünftigen multipolaren Ordnung selbstständiger Nationalstaaten.

Das ist in der Tiefe eine positive historische Dynamik, die nicht nur über die bisherige Kolonialgeschichte, sondern auch über die Decke der daraus hervorgegangenen „unipolaren“ US-Herrschaft hinausweist und ein neues Zeitalter, ein Zeitalter weltweiter, regionaler und lokaler Kooperation selbstständiger Nationalstaaten einleiten könnte.

Solchen Entwicklungen kann nur mit dem Bewusstsein begegnet werden, dass Frieden und Menschlichkeit unteilbar sind.

Hier kann zukunftsorientiertes Denken einsetzen, das an der kooperativen Erhaltung unserer Welt in gegenseitiger Achtung der unterschiedlichen Interessen und kulturellen Werte der Völker und ihrer Gesellschaften orientiert ist. Das könnte der Dynamik der Selbstverwertung des Kapitals in Gestalt nationaler Konkurrenzen soziale Grenzen setzen. Das wäre eine Entwicklung, in der sich die Kulturen der alten und der neu heranwachsenden Welt im friedlichen Austausch ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten und im Interesse einer gemeinsamen Sorge um die Fortentwicklung unserer Welt ergänzen und zusammenwirken können, statt sich in gegenseitiger Konkurrenz Matt zu setzen – oder in den globalen Krieg zu treiben.

Das, um es so zu formulieren, sind die Lichter am fernen Horizont, die jenseits der gegenwärtigen Eskalationen sichtbar werden.

Israel Ukraine

Aber…

Aber dieser Prozess der aktuellen, vielleicht letzten Stufe der Entkolonialisierung, also der tendenziellen Herausbildung nationaler, regionaler und lokaler Selbstständigkeiten in einer pluralen gemeinsam gestalteten Welt vollzieht sich nicht automatisch in kooperativen Formen, bringt auch nicht automatisch eine multinationale neue Ordnung gleichberechtigter gesellschaftlicher Einheiten und ein neues Verständnis des gemeinsamen globalen Wirtschaftens hervor, sondern befeuert zugleich auch noch eruptive, extreme, aggressive Formen des Nationalismus, die sich aus den Resten der unbewältigten Geschichte herleiten. 

Extremster Ausdruck davon sind zurzeit die Vorgänge in der Ukraine und in Israel, die heute als nationalistische Geschwüre aus der kränkelnden «One-world»-Realität hervorbrechen. In der Ukraine geschieht das als Folge des Zerfalls des sowjetischen Imperiums, im Nahen Osten in der Folge der Kolonisierung Palästinas durch Israel als Speersitze des «Westens» im arabischen Raum.

Weitere nationalistische oder rassistische Eruptionen sind zu befürchten, wo Gruppen, Länder, Gesellschaften sich zwar von den nachkolonialen Fesseln befreien wollen, aber nicht bereit oder – zurückhaltender formuliert – noch nicht fähig sind zu offener ökonomischer und kulturübergreifender Kooperation im Zuge der sich herausbildenden neuen pluralen Ordnung. Da lauert am Horizont auch der Konflikt um Taiwan.

Diese aus der Vergangenheit gespeisten Konflikte, allen voran zurzeit der ukrainische und der israelische, können die Herausbildung der heute anstehenden möglichen multipolaren Ordnung verfälschen, sie in die Irre, in die Konfrontation, in neue rassistische «Säuberungskriege», tendenziell in eine allgemeine Katastrophe ziehen – solange es den Statthaltern der gegenwärtigen unipolaren Ordnung unter Führung der USA immer noch gelingt, lokale oder regionale Konflikte, irregeleitete Nationenbildungen nach dem Prinzip «teile und herrsche» für die Aufrechterhaltung ihrer Dominanz zu nutzen, um, so noch einmal in den Worten Brzezinskis zu sprechen, das Aufkommen globaler Rivalen zu verhindern.  

Es geht in diesen Kriegen jedenfalls, um das deutlich zu sagen, weder in der Ukraine noch in Israel um die Verteidigung der Demokratie. Jedenfalls, um es noch anders zu sagen, sind die inneren Konflikte nur der Hebel für die Noch-Weltmacht USA ihre globalen Rivalen auszubremsen – über die Ukraine zielt das auf Russland und China und nicht zu vergessen Europa, dass sich im unerklärten Krieg mit Russland erschöpft. Über Israel zielt es auf die Ölstaaten des mittleren und südlichen Ostens, die zusammen mit Russland und China bereit sind sich von der «westlichen» Dominanz abzukoppeln und daran gehindert werden sollen.  

In Israel, um das deutlich zu sagen, geht es auch nicht um das Zurückkämpfen von Antisemitismus, erst recht nicht um die generelle Durchsetzung von Menschenrechten. Das zu erkennen, dazu reicht ein Blick auf die aktuellen Schlachtfelder in der Ukraine und in Israel, konkret die seit 2014 durchgeführte Dauerbombardierung des Donbass durch Kiew, konkret den gnadenlosen Bombenterror im GAZA-Streifen in Israel, der die vorangegangene Provokation seitens der Hamas weit übersteigt.

Nicht vergessen werden darf der Siedlerterror im Westjordanland gegen die dort ansässigen Palästinenser. Rechtfertigungen wie die, mit diesen Kriegen werde «die Demokratie» verteidigt – gegen die «russische Aggression», wie Selenski erklärt, gegen «den Terrorismus» wie Netanjahu es hinstellt – schrumpfen vor dem Hintergrund dieser realen Vorgänge in der Ukraine wie auch in Israel auf pure Lippenbewegungen, auf ideologische Schleier, die über die tatsächlichen Vorgänge gezogen werden sollen.

Die tatsächlichen Vorgänge müssen ganz anders beschrieben werden. In der Ukraine wurde der historische Bonus des nachkolonialen Impulses, der zu einer selbstbestimmten Gesellschaft in kooperativer Vielfalt als Vermittler zwischen Russland und Europa hätte führen können, in einen aggressiven rassistischen Nationalismus verkehrt, für den Russen «Untermenschen» sind.

Zugewinn für die USA: ein geteiltes Eurasien, in dem Europa und Russland ihre Potenzen im halb erklärten Krieg aneinander verbrauchen. Israel hat seine Rolle als Opfer der Geschichte mit seiner gnadenlosen Antwort auf den Anschlag der Hamas, die nach Aussagen seiner führenden Militärs als «Tiere» bekämpft werden müssen, vom Opfer zum Täter verkehrt. Hier könnte sich der Zugewinn der «einzigen Weltmacht» allerdings durch die Empörung der arabischen, muslimischen und im weiteren Sinne südlichen Welt in einen strategischen Bumerang verwandeln.

So oder so: Der eine wie der andere Vorgang, der ukrainische wie der israelische Nationalismus verlässt, die Bahnen der humanen Gesellschaft – von Kampf um Demokratie, Kampf gegen Antisemitismus und für Menschenrechte ist schon gar nicht zu reden. 

Solchen Entwicklungen kann nur mit dem Bewusstsein begegnet werden, dass Frieden und Menschlichkeit unteilbar sind.

Über

Kai Ehlers

Submitted by cld on Fr, 07/07/2023 - 07:39

Ich wurde am 19.4. 1944 in Brüx (bei Prag) geboren. Nach dem Abitur im Jahre 1964 habe ich Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaft zunächst in Göttingen, ab 1968 in Berlin studiert. Im Zuge der 68er Bewegung ging ich in die journalistische und politische Praxis. Heute bin ich als selbstständiger Forscher, Buchautor, Presse- und Rundfunkpublizist sowie mit Vorträgen, Seminaren, Workshops und Projekten bei Bildungsakademien, freien Trägern, politischen Gruppen in Deutschland und Russland tätig. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf den Wandlungen im nachsowjetischen Raum und deren lokalen wie auch globalen Folgen, denen ich durch Untersuchungen, Gespräche und Aktivitäten vor Ort nachgehe.