Inszenierte Bedrohung: Schweden, die Nato und der Kalte Krieg

Schweden soll nach Finnland das 32. Nato-Mitglied werden. Die Nato Ost-Erweiterung hat damit insgesamt einen Zustand erreicht, der in den 90ern noch undenkbar war.

Skulptur auf schwedischer Flagge
«Non-Violence»-Skulptur des Schweden Carl Fredrik Reuterswärd - Anspruch oder Wirklichkeit? Montage: CD

Sand im Getriebe sind in Bezug auf Schweden nur noch Türkei und Ungarn. Beide Länder kritisieren die einseitige Haltung des Westens im Ukraine-Krieg. Recep Tayyip Erdoğan ermöglichte Verhandlungen und vermittelte das Getreideabkommen.

 

Sand im Nato-Getriebe

«Ich frage mich, ob es etwas Dringendes gibt, das uns dazu zwingen würde, Schwedens Kandidatur zu ratifizieren»,äusserte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán im Parlament in Budapest. «Einen solchen Umstand kann ich nicht erkennen.» Die Sicherheit Schwedens sei in «keinster Weise» gefährdet. Orbán äusserte aber auch, Ungarn wolle nicht das letzte Land sein, das dem Beitritt Schwedens in die Nato zustimme, was auf eine gewisse ungarisch-türkische Koordination zu dem Thema verweist.

Der türkische Präsident Erdoğan verfolgt in seinen Verhandlungen verschiedene eigene Interessen. In Finnland und Schweden sind grosse kurdische Gemeinden zuhause. Vor dem Nato-Gipfel in Madrid im Juni 2022 forderte Ankara von Schweden und Finnland die Auslieferung von 33 angeblichen ‚Terroristen’ – danach stieg die Zahl auf 73 Personen. Unter den kurdisch-stämmigen Schweden machte sich Verunsicherung breit (1).

Im Juli 2023, Stunden vor Beginn des Nato-Gipfels in Vilnius, Litauen, vollzog Erdoğan dann eine Kehrtwende und kündigte an, er werde die NATO-Mitgliedschaft Schwedens unterstützen.

Erdoğan müsse einen Weg finden, um eine drohende Finanzkrise zu vermeiden, so die Analyse des Investigativ-Journalisten Seymour Hersh. Die Türkei sei in akuter finanzieller Bedrängnis, und Biden habe versprochen, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) der Türkei eine dringend benötigte Kreditlinie in Höhe von 11-13 Milliarden Dollar gewährt. Durch das Erdbeben im vergangenen Februar verloren in der Türkei 100.000 Menschen ihr Leben, und das Land sieht sich vor dem Wiederaufbau von vier Millionen Gebäuden.

Einer Analyse des Council on Foreign Relations (CFR) vom Juni zufolge stehe die Türkei kurz davor, «wirklich keine brauchbaren Devisenreserven mehr zu haben» – und damit vor der Wahl, «entweder ihr Gold zu verkaufen, einen vermeidbaren Zahlungsausfall zu riskieren oder die bittere Pille einer kompletten Kehrtwende und möglicherweise eines IWF-Programms zu schlucken.»

Die Weltbank beabsichtigt nun, ihre Türkei-Hilfen auf 35 Milliarden Dollar zu verdoppeln.

 

Der Krieg beginnt im Kopf: Rückschau auf Schweden im Kalten Krieg

Der aktuelle Krieg in der Ukraine sowie dessen Vorgeschichte sollte den US-Falken dazu dienen, «Russland zu schwächen». Die Aussage stammt von Verteidigungsminister Lloyd Austin selbst. Fast alles weitere zum Thema, was wir im westlichen Mainstream zu lesen und zu hören bekommen, dient dann dazu, uns auf diese gefährliche Kriegslogik einzustimmen. Auch in Schweden.

Wie alt ist der Versuch, Schweden an das westliche Militärbündnis anzugliedern? Was alles war schon im Kalten Krieg nötig, um die demokratische und blockfreie Gesinnung im Land in Angst zu verwandeln? Wie weit geht man dafür?

«Täuschung - Die Methode Reagan» heisst ein sehr sehenswerter Dokumentarfilm von Dirk Pohlmann aus dem Jahr 2014, der die Vorgänge in Schweden zur Zeit des Kalten Krieges analysiert (2). Ronald Reagans geheimes Komitee für verdeckte und psychologische Kriegsführung ist das Thema, die Zusammenarbeit des Präsidenten mit dem damaligen Geheimdienstchef, Wahlkampfleiter und Banker Bill Casey – und der bis heute nicht aufgeklärte Mord an dem schwedischen Präsidenten Olof Palme.

Schon seit 1960 war Schweden in die Militärplanung der Nato integriert. Nur die Ostsee trennte Schweden von der damaligen Sowjetunion. Schweden war zwar ein blockfreier Staat, aber nicht wirklich neutral. «Tatsächlich war Schweden extrem wichtig im Falle eines zukünftigen Weltkrieges», erklärt Ola Tunander, Forschungsprofessor für Sicherheitspolitik, im Film. Das Land sei «eine Art unsinkbarer Flugzeugträger für die USA

Der Film wurde von einer internationalen Jury auf dem «Das Meer ruft!» Festival in St. Petersburg einstimmig als beste ausländische Doku gewählt. Zugleich rief er jede Menge Gegenwind hervor bis hin zu einer inhaltlich veränderten Version, die ohne Wissen oder Zustimmung des Filmemachers international veröffentlicht wurde (3).

Die zentrale Entwicklung: Bis 1980 hatten 27% der Schweden die Sowjetunion als direkte Bedrohung wahrgenommen. Drei Jahre später, 1983, war diese Zahl auf 83% gestiegen.

1981 lief ein sowjetisches U-Boot weithin sichtbar auf einem Felsen in einem schwedischen Fjord auf. Der Fjord war viel zu eng und zu seicht für das Boot. Die Bodenanalyse zeigt, dass man mit voller Absicht weiter Gas gab, um dann auch wirklich dort festzusitzen. «Whisky on the Rocks» wurde das absurde Ergebnis genannt, aber das Bild ‚stimmte‘ - und brannte sich ein.

Olof Palme und Fidel Castro
Olof Palme und Fidel Castro

 

Wenn das Militär nicht dem Land dient

Olof Palme wurde 1981 zum Präsidenten gewählt und verfolgte einen blockfreien und neutralen Kurs. Er setzte der Logik des Kalten Krieges etwas entgegen, kein Entweder-oder, sondern Entspannungspolitik, Abrüstung und Frieden. Er unterstützte die US-kritische Friedensbewegung, etwa in Bezug auf den Vietnamkrieg, setzte sich für Freiheitsbewegungen in aller Welt ein und wollte die Unabhängigkeit für Angola. All das steigerte seine internationale Bekanntheit und Beliebtheit.

Aber es gab in Schweden auch Machteliten, die ganz andere Absichten hatten und unter dem Einfluss der USA und Grossbritannien standen. Es gab also ein politisches und ein militärisches Schweden, und die waren sehr verschieden.

Knapp zwei Wochen nach dem Amtsantritt von Olof Palme wurden U-Boot-Periskope (Sehrohre) vor der schwedischen Marinebasis gesichtet. Eine Pressekonferenz der schwedischen Marine folgte. Daraufhin berichteten hunderte Journalisten weltweit, wie die schwedische Marine eine erfolglose Jagd auf sowjetische U-Boote führte. In den folgenden Jahren wiederholte sich das Spektakel vielfach.

Palmes Friedenspolitik wurde durch die Geschehnisse unterlaufen. Der sowjetische Botschafter übermittelteschliesslich auf Palmes Nachfragen hin aus dem Kreml, man dürfe diese U-Boote bombardieren, denn man wisse ja, sowjetische sind es nicht.

Die USA gaben zu, involviert gewesen zu sein. «War es eine amerikanische Operation?» wird James Lyons, stellvertretender Marinechef der US Navy, gefragt, und er antwortet lachend: «Ja könnte sein!» Die schwedische Generäle hätten ihnen gewissermassen eine Freifahrt gegeben, neben dem Spielfeld gestanden und ihnen «in den Mantel» geholfen.

Auch der damalige US-Verteidigungsminister Caspar Willard Weinberger gab in einem Interview zu, dass die USA darin verwickelt waren, und dies nicht «ohne vorherige Absprache». Und auch Keith Speed, britischer Marineminister, berichtet von Übungen, in schwedische Hoheitsgewässer einzudringen.

Zusammengefasst bedeutet das, die oberste Führung der schwedischen Marine wusste, dass Nato-U-Boote in schwedischen Gewässern unterwegs waren.

1986 plante Olof Palme eine Reise nach Moskau, um mit dem neuen Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow über die gemeinsame Sicherheitspolitik und die U-Boote zu sprechen. Vier Wochen vor seiner Abreise wird Olof Palme ermordet.Als Täter wird zunächst ein Drogensüchtiger, dann später ein anderer, bereits verstorbener Einzeltäter in den Fokus gerückt und die Ermittlungen werden eingestellt. Anders gesagt: Der Fall wurde nie aufgeklärt.

«Ich bezweifle nicht, dass es ein politischer Mord war», sagt Michail Gorbatschow im Film. «Ein Auftragsmord. So ein Mord geschieht nicht durch Zufall, nein.»

Auf die Frage, warum er das glaube, antwortet Gorbatschow: «Wenn seine Vision realisiert worden wäre, hätte das mächtige Interessen gestört. Das sind Gruppen, die nicht daran interessiert sind, dass es eine bessere Welt gibt.»

 

Ausblick

Spätestens seit dem Kalten Krieg sind das Denken in Blöcken, die damit verbundene Aufrüstung und die später folgende Nato-Osterweiterung ein genauso unmöglicher Lösungsansatz wie der Krieg an sich. Spätestens seit dem atomaren Zeitalter wissen wir, dass Kriege nicht gewonnen werden können. Im Gegenteil: Das Herausfordern einer Atommacht gefährdet die gesamte Menschheit. Im Kalten Krieg gab es mehr als einen Augenblick, in welchem wir um Haaresbreite den grossen Knall umschifften – weil wir Glück hatten. Deutschland ist hier aufgrund seiner geopolitischen Lage besonders gefährdet.

Egon Bahr war gebeten worden, sich für die Unabhängige Kommission für Abrüstung und Sicherheit von Olof Palme Gedanken über Aussenpolitik zu machen. Er kam zu dem Ergebnis, dass ein Atomkrieg nicht mehr gewinnbar ist. Man müsse die Sicherheitsinteressen des Gegners mitberücksichtigen und zu dialogischen Lösungen finden (4).

«Das Ergebnis hiess gemeinsame Sicherheit», lautete seine Antwort.

Ein Imperium wächst nicht ins Unendliche, denn irgendwann kann es seine Macht auch mit Gewalt nicht mehr zementieren, und dann zerfällt es. Die Nato ist nun gegenwärtig nicht nur «hirntot», greift sich selbst an und sprengt nach Vorankündigung durch Joe Biden ihre eigene Versorgungsinfrastruktur (Biden vor der Nordstream Sprengung: »We will bring an end to it”), sondern hat den Bogen als Angriffsbündnis in jeder Hinsicht überspannt. Die BRICS-Staaten und die südliche Halbkugel haben das Vertrauen in die Versprechen und in die Propaganda der von den USA angeführten Nato-Staaten verloren.

Das Ergebnis kann und sollte eine multipolare Welt sein, die in ein neues Gleichgewicht findet. Wie friedlich dies möglich ist, hängt von uns allen ab.

 

Quellen und Anmerkungen:

(1) Van Gent, Amalia, in: Ein schrecklicher Preis für die Nato-Erweiterung. Free 21, August 2022, Seite 31

(2) Pohlmann, Dirk: Täuschung - Die Methode Reagan, Arte 2014.

(3) Dirk Pohlmann, Facebook, 5.10.23

(4) Vgl.: KenFM im Gespräch mit: Dirk Pohlmann (Täuschung – Die Methode Reagan), 5.5.2015

18. Januar 2024
von:

Über

Angela Mahr

Submitted by cld on Do, 08/03/2023 - 15:00

Über mich: Ich bin Journalistin und arbeite zu den Themen Frieden, Interkulturelle Kommunikation und Völkerrecht. Damit verbunden betrachte ich auch das Spannungsfeld von Propaganda und Gesellschaft. Als Filmemacherin reiste ich nach China, Tibet und Indien und veröffentliche auf konzernunabhängigen Wegen. Ich studierte Ethnologie, Nordamerikastudien und Literaturwissenschaft (M.A.) in Berlin.

Jede Krise ist auch eine Chance. Deshalb geht es in meiner Arbeit und in meiner Musik zugleich auch um den Mut zum Neubeginn. Wenn wir unsere Liebe zum Leben mit unserer Kreativität verbinden, entstehen neue Lösungen, und echter Friede wird möglich.
 

CoverMein neues Buch: Frieden für die Ukraine - wie kann der Krieg beendet werden?