Bildung vom Fliessband

Die Massenproduktion an Hochschulen macht niemanden glücklich: Die Freiheit von Lehre und Forschung geht verloren, die Studierenden pauken abrufbares Wissen für Prüfungen und dann verdienen sie gemäss Lohnbarometer von jobs.ch erst noch weniger als Berufsleute mit Weiterbildung. Zwei Hochschul-Didaktiker ziehen Fazit.

Studierte werden en gros produziert. Die Studienanfängerin wird auf ein Laufband gehievt und durchläuft das erste Modul. Dann kommt jemand und nimmt den Leistungsnachweis ab, zum Beispiel in Form einer kleinen Prüfung. An der nächsten Fliessbandstation wird die richtige Zahl Kreditpunkte aufgestempelt. Einen Schritt weiter folgt das zweite Modul, wieder ein kleiner Leistungsnachweis, dann der obligate Kreditpunkte-Stempel. Und so weiter. Und wer steht am Fliessband und bearbeitet die Studierenden? Ein ganzes Heer von Dozierenden, spezialisiert auf einen bestimmten Beitrag zum Ganzen, so wie sich das für Fliessbandarbeit gehört.
Für manche Bildungsökonomen und Bildungsmanager mag das die Traumvorstellung sein: Ein ausgefeiltes Prozessmanagement aus genau definierten Modulen, Stellenbeschrieben, Ablauf- und Ablagedokumentationen steuert effizient die Serienproduktion. Lauter fleissige Professorinnen und Dozenten, Rädchen im Hochschulwerk – und gleich den Studierenden jederzeit ersetzbar. Noch sind wir nicht so weit, aber einige Hochschulen und insbesondere manche Studienrichtungen sind auf diesem Weg schon weit gekommen.

Industrialisierung des Wissens
Konrad Paul Liessmann zeigt in seiner «Theorie der Unbildung», dass wir uns nicht von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft entwickeln, sondern dabei sind, das Wissen zu industrialisieren. «Wäre es anders, würden wir Unternehmen in Universitäten und nicht Universitäten in Unternehmen verwandeln», schreibt er treffend.
Wir nehmen wahr, dass der Kontakt unter den Dozierenden abnimmt. Die Modulbeschriebe geben vor, was zu tun ist. Persönliche Absprachen und gegenseitige Information wird von der zeitlichen Überlastung verdrängt. Pünktlich Gebäude und Unterrichtsraum betreten, sein Ding drehen, raus.
Dass «Lehre und Forschung sich dem Diktat wirtschaftlicher Rentabilität kaum noch entziehen können» ist auch die Diagnose des Philosophen Christoph Türcke. Schmiermittel der Massenproduktion ist die «Didaktik», die sich anschickt, «die moderne Wissenschaft der Wissenschaften» zu werden, schreibt er in seiner «Kritik des Didaktik-Kults».
Die von der Bildungspolitik geforderte Erhöhung der Maturitätsquote bedeutet u.a. grössere Gruppen in Lehrveranstaltungen, sprich Massenabfertigung. Auch die Fachhochschulen stehen unter Druck, «effizienter» zu werden und vermehrt Grossgruppenveranstaltungen abzuhalten. Was unterscheidet Grossgruppen von echten Seminargruppen? Die Anonymität nimmt zu, der Zusammenhalt unter den Studierenden ab. Das Punktesammeln taktet als formalistische Ausrichtung, während die vertiefende Diskussionskultur verblasst. Früher war oft das, was für den Abschluss nichts brachte, was wirklich «für das Leben» qualifizierte. Viele Studiengänge liessen Raum genau dafür – und der wurde rege genutzt. Die Professoren empfahlen uns, nicht zu viel auf einmal zu belegen und dadurch Tiefgang erst möglich zu machen. Heute hingegen ist «Workload» der bestimmende Begriff. Die Studierenden werden auf ein 100 Prozent-Pensum mit Pflichten ausgebucht, die Dozierenden übrigens auch. Bildung gerät zum Abarbeiten von Pflichten. Mit künstlichen Projekten versucht man nun, Kreativität und Eigeninitiative wieder anzustossen – unbeholfene Massnahmen. Denn extrinsische Motivation verdrängt die intrinsische.

Das Schnellere darf teurer sein
Der berühmte Markt wirkt auf das Bildungssystem so: Eine Weiterbildung – und eventuell auch eine Hochschulausbildung – ist besonders viel wert, wenn man das gefragte Diplom mit möglichst wenig Aufwand erhält. Sinnvolles und Wichtiges zu lernen mag früher im Zentrum gestanden haben – nicht so heute. Der Faktor Zeit ist zum bestimmenden Argument geworden. Anbieter zumindest optimieren in diese eine Richtung. Da werden Master of Advanced Studies (MAS) berufsbegleitend mit einer Dauer von zwei Jahren angeboten. Man rechne: Ein MAS umfasst mindestens 60 Punkte im European Credit Transfer System (ECTS). Ein ECTS-Punkt entspricht einem Workload von rund 30 Stunden. Total ist also ein Einsatz von 1800 Stunden gefragt, was einer 50-Prozent-Stelle während zwei Jahren gleichkommt, berufsbegleitend. «Mogelpackung» kann man da nur sagen. Aber einleuchtend: Wenn ich einen MAS-Titel innerhalb von zwei Jahren neben meiner angestammten Anstellung erhalten kann – warum sollte ich zu einem Anbieter gehen, der das auf vier Jahre verteilt? Gerne bezahle ich auch etwas mehr für ein schnelleres Diplom. So geht es, wenn Bildung zu Markte getragen wird.
Ob es im Bildungssystem um Bildung geht, ist unsicher. Sicher hingegen ist, dass es im Bildungssystem um Selektion geht. Hast du Diplom, Zertifikat, Bachelor, Master? Oder hast du nicht? Bezahlt wird primär für die potentiell positive Selektion, nicht für das Lernen.
Mit der Industrialisierung der Bildungsarbeit als Fliessbandarbeit geht auch eine Verdummung derselben einher. Die Tätigkeit der Dozierenden, der Professorinnen und Professoren wird eintöniger und einsamer. Wo einst Teams waren, die gemeinsam getüftelt, gelehrt und auch selbst gelernt und entdeckt (also geforscht) haben, findet das grosse Rein-raus statt: Ich kam, unterrichtete, und ging.
Verdummt wird nicht nur die Arbeit der Dozierenden, sondern auch das vermittelte Wissen selbst. Es gilt das einfache Prinzip: Je dümmer ein Wissen ist, desto leichter lässt es sich prüfen. Eine Kostprobe: Der Umfang eines Kreises ist immer gut dreimal so gross wie sein Durchmesser. Genauer genommen 3.1415 mal grösser: Das ist die Zahl Pi. Nun kann ich Ihnen heute mit geeigneten Methoden helfen, sich diese Zahl bis auf 10 Stellen nach dem Komma (.1415926535) zu merken. Morgen mache ich eine Prüfung – mit minimalem Aufwand, objektiv und rekurssicher gestaltet. Nützen wird Ihnen das Wissen um diese Nachkommastellen nie etwas. Gegenprobe: Nach einer Weiterbildung in Ethik oder Führung könnte es sinnvoll sein, zu prüfen, wie gut Sie nun ethisch schwierige Situationen meistern bzw. Teams leiten können. Wenn wir das herausfinden wollen, wird die Prüfungsanlage ganz schön kompliziert und aufwändig. Zudem wird eine Notenbewertung mit Viertelsnoten oder noch genauer kaum Sinn machen. Dieses Wissen ist im Gegensatz zu den Nachkommastellen von Pi jedoch wertvoll und nützlich.

Mit zunehmender Massenabfertigung dürfen die Prüfungen immer weniger Aufwand verursachen. Mit zunehmender Verrechtlichung müssen sie immer rekurssicherer sein. Also werden die Prüfungen immer mehr auf dummes Wissen konzentriert. Zugleich arbeiten die Studierenden immer mehr prüfungsorientiert. Dies liegt auch (aber nicht nur) daran, dass der Zeitdruck durch Vergrösserung der Stoffmenge und Beschränkung der Studienzeit erhöht wird. Alles wirkt optimal und in gleicher Richtung zusammen: Wer ein Studium abschliesst, verfügt je länger desto mehr über viel dummes, aber bestens überprüfbares Wissen. Und über ein Bachelor- oder gar Master-Papier.

Standardisierung senkt das Niveau
Das ist die Richtung, in die mit mächtigen Anreizen getrieben wird. Sind die Bildungsmanager, die Politiker, die CEOs von Hochschulen dafür verantwortlich? Oder ist es ein Strudel, in den wir geraten sind, ohne dass es jemand wirklich gewollt hat? Wer sind die Profiteure? Wir lassen diese Fragen für den Moment offen. Immerhin: Ludwig Locher, Präsident des Hochschulrates der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur drückte sich im Jubiläumsinterview in der Südostschweiz vom 28. September 2013 zwar diplomatisch aus, lässt aber durchblicken, dass vor dem ECTS ein höheres Niveau erreicht wurde und zählt ausdrücklich verschiedene nachteilige Auswirkungen der Zentralisierung auf.
Und die Dozierenden? Wir kennen viele, die sich leidenschaftlich für ihre Inhalte und für ihre Studierenden einsetzen. Viele bringen unter zunehmend widrigen Bedingungen ganz Erstaunliches zustande. Auch erhebliche Teile des mittleren Kaders und einige im oberen Kader versuchen zu retten, was zu retten ist. Sie halten mutig die Bildungsstellung. Aber das System, die Wucht der Administration und die Zeit arbeiten gegen sie. Viele Burnouts, innere Kündigungen und ein grosser Teil der Fluktuation hängen genau damit zusammen.
Ehemals eigenständige, überschaubare Schulen mit gutem Ruf und simpler Administration werden zu Riesengebilden fusioniert. Einheiten von internationalem Ruf wie  die Abteilung für Architektur in Chur gehen verloren. Werden gerade gute, kleine Schulen geschlossen, um nachher ungestörter Bildungs-Massenproduktion verkaufen zu können?

Der Wettbewerbsvorteil der Kleinen
Natürlich war nicht jede kleine Schule gut. Der Rückblick soll hier auch nicht im Zentrum stehen. Was interessiert, ist die Richtung, in die wir gehen. Ist die Situation im Bildungswesen mit der der fusionierten Bierbrauereien zu vergleichen? Wer freut sich heute noch wirklich über ein Standardbier? Klein- und Kleinstbrauereien sind mehr denn je gefragt. Darum: Es ist Zeit für kleine Bildungsanbieter, gute Fachleute von Grosshochschulen zu holen. Nur: Die ECTS-Struktur wird von einem harten Monopol verwaltet, so dass diese Form der Anerkennung allen Anbietern versagt bleibt, die sich nicht einem Bildungskonzern anschliessen wollen. Und dennoch: Es wird Möglichkeiten geben, wie Studierende ihr wertvolles Wissen demonstrieren können, zum Beispiel durch die Dokumentation konkreter Leistungen im Rahmen einer Weiterbildung. Gegenüber den Fusionsschulen wird der inhaltliche Wettbewerbsvorteil von Dozierenden gross sein, die einander nicht nur dem Namen nach kennen, sondern dank überschaubarer Grösse gemeinsam ein Team bilden, voneinander wissen, ihre Studierenden über ihre Modulgrenzen hinaus kennen und gemeinsam die Dinge weiterentwickeln.
Und: Manche Grosshochschulen geben zunächst verstohlen, dann immer offener Raum dafür, dass auch innerhalb ihrer Tore schlaue Bildung veranstaltet werden kann. Auch diese Chancen gilt es zu nutzen. Geht man zudem als Dozentin bzw. Dozent kreativ und etwas experimentell mit Vorgaben um, erweitert sich manchmal der Spielraum erstaunlich. Ein Dozent erzählte mir, dass ihn sein Vorgesetzter ausdrücklich dazu aufgefordert hat: «Game the system!». Letztlich werden das vielleicht sogar die Antreiber der Industrialisierung des Wissens unterstützen oder zumindest nicht bekämpfen. Denn wenn Unterricht besser ist, als der Modulbeschrieb erlaubt – warum nicht?  
  
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Dr. Dr. Christof Arn ist selbständiger Ethiker, wirkt an unterschiedlichen  Hochschulen und ist leidenschaftlicher Leiter des «Zentrums für Lernen und Lehren» der Hochschule Luzern. Dessen Schwerpunkt ist die Weiterbildung und Beratung in Hochschuldidaktik für die Fachhochschuldozenten. Er ist Gründer der Gruppe Adminus, die sich gegen Überadministration wendet und dazu am  25. Oktober eine Tagung organisiert unter dem Titel «Zur Sache – die Fesseln der Bürokratie sprengen». www.adminus.ch
Jean-Pierre Jenny war bis vor kurzem Fachdidaktiker für Höheres Lehramt in Italienisch, langjähriger Dozent an der Pädagogischen Hochschule der FHNW und Autor zahlreicher Publikationen; aktuell ist er aktiv in einem wissenschaftshistorischen Projekt.
Das erwähnte Interview mit Ludwig Locher, Präsident des Hochschulrates der HTW findet sich unter www.suedostschweiz.ch