Die Akademisierungsfalle

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Jugendarbeitslosigkeit. Alle Mächte Europas haben sich zwar für die heilige Jagd gegen dieses Gespenst verschworen: die Regierungen und die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds, die Wirtschaftsredaktionen und -fakultäten. Alle geben sich wortreich und sind dennoch hilflos und inkompetent bei dessen Bekämpfung.

Wir erleben ein europäisches Drama. Jeder vierte Mensch unter 25 Jahren in der EU, der nicht gerade in einem Studium steckt, ist arbeitslos. In Südeuropa ist es mittlerweile gar die Hälfte. Es gibt keine grössere Demütigung eines jungen Menschen, als das Gefühl, nicht gebraucht zu werden.
Viele, die im Arbeitsmarkt nicht unterkommen, haben eine gute Bildung, ja oft sogar eine Hochschulbildung. Doch sie haben eine falsche Ausbildung, eine, die nicht gebraucht wird. Sie stecken in der Akademisierungsfalle! Dieser gespenstische Trend Europas in Richtung Akademisierung wirft seinen Schatten weit in die schweizerische Gesellschaft, ja in die Häuser und Familien: Alle drängen ans Gymnasium, an die Universität. Unter dem Mainstream der Akademisierung sind die meisten der Meinung, junge Menschen hätten es später besser, wenn sie einen akademischen Titel erreicht haben. Diese Annahme ist deshalb irrig, weil unser Berufsbildungssystem heute nach dem Prinzip «kein Abschluss ohne Anschluss» durchlässig ist und auch über die Berufslehre zu Tertiärabschlüssen und Karrieren führt.
Wenn hier von der «Akademisierungsfalle» die Rede ist, ist jene bildungspolitische Fehlentwicklung gemeint, die junge Menschen unter dem Diktat von Bologna an den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts vorbei ausbildet – und gleichzeitig andere Qualitäten des Menschen vernachlässigt, etwa die Qualifizierung der praktischen Intelligenz oder die emotionale Intelligenz, die Zuverlässigkeit, die Exaktheit und das Verantwortungsbewusstsein. Nicht nur Individuen, sondern ganze Volkswirtschaften stecken in der Akademisierungsfalle.

Der Akademisierungstrend gefährdet das ganze Bildungssystem aus folgendem Grund: Wenn die akademische Bildung so hohe Anteile erreicht hat, verbleiben für die berufspraktischen Ausbildungsgänge nur noch schulschwache Jugendliche. Damit gerät die Berufsbildung in ein soziales Stigma, sie wird zum Bildungsweg der Schwachen und «Dummen». Das ist in der Schweiz und in anderen Berufsbildungsländern, wie in Deutschland und Österreich, zum Glück nicht der Fall. Heute noch beginnt ein grosser Teil der ländlichen Elite und des KMU-Wirtschaftskaders in der Schweiz ihre berufliche Karriere mit einer Berufslehre – meist mit anschliessender Höherer Berufsbildung. Gerade dadurch bildet sie das Rückgrat des hohen Wohlstandsniveaus hierzulande.
Es liegt mir fern, mit diesen Feststellungen irgendwelche antiakademischen Ressentiments zu bedienen. Aber: Die europäischen Länder mit den höchsten Maturitäts-/Abitur- und Hochschulquoten verzeichnen auch die höchste Jugendarbeitslosigkeit und erleben gleichzeitig einen dramatischen wirtschaftlichen Abstieg.
Und die wenigen Länder Europas, die ein duales Berufsbildungssystem kennen – eine Kombination von betrieblicher Berufslehre mit öffentlicher Berufsfachschule –, stehen in Bezug auf Konkurrenzfähigkeit, Wirtschaftskraft und Jugendarbeitslosenquoten am besten da. Dieser Graben, der durch Europa geht, wiederholt sich innerhalb der Schweiz zwischen den Sprachregionen deutsch–welsch in einer wirtschafts- und bildungspolitischen Kluft.

Die Entwicklung geht durchaus in Richtung «Wissensgesellschaft», zweifellos. Aber Wissen und Innovation allein nützen nichts, wenn nicht Berufsleute mit praktischer Intelligenz und Qualitätsarbeit diese Innovationen auch umsetzen können. Praktische Fachkenntnis (Skills) muss sich mit entwickeltem Wissen (Knowledge) verbinden – genau das vermittelt das Berufsbildungssystem. Wer nie an betrieblichen Produktionsprozessen beteiligt war, unterschätzt die Bedeutung der Berufsbildung systematisch.
Diese Wechselwirkungen zwischen Berufsbildung, Arbeitseffizienz und Produktivität werden von den meisten akademischen Ökonomen, aber auch von den Erziehungswissenschaften vernachlässigt. Doch jeder KMU-Chef versteht sie aus Erfahrung und Intuition.Jahrzehntelang ist die Bedeutung der dualen Berufsbildung in der akademischen Welt verkannt worden. Mein Wirtschaftsbuch «Warum wir so reich sind» von 2008/2010 wurde zwar in der Berufsbildungsszene und in der KMU-Wirtschaft hoch geschätzt und in englischer Version sogar in Schwellenländern verbreitet, doch in der akademischen Makroökonomie wird der wirtschaftliche Schlüsselfaktor des Berufsbildungssystems nach wie vor ignoriert. Erst das Drama der Jugendarbeitslosigkeit Europas und der angelsächsischen Welt hat die Bildungseliten aus ihrer Ignoranz wachgerüttelt.
 
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Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem soeben zum Jahr der Berufsbildung erschienenen Buch von Rudolf Strahm: «Die Akademisierungsfalle – warum nicht alle an die Uni müssen». Mit Berufsbiografien von Rahel Eckert-Stauber. hep verlag, 2014, 240 S. Fr. 34.–/€ 28.–.

Dr. h.c. Rudolf Strahm war 13 Jahre für die SP im Nationalrat und vier Jahre lang Preisüberwacher.   Heute wirkt er als Dozent bei Master-Lehrgängen für Berufs- und Laufbahnberater an den Universitäten Bern und Fribourg und als Präsident des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung. www.rudolfstrahm.ch
10. Oktober 2014
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