Zwischen Schlafen und Wachsein

Träume lassen uns eintauchen in Wahrheiten, die wir an der Oberfläche unseres Lebens weder sehen noch verstehen.

Salvador Dali: Der Traum

In Träumen können wir uns mit dem «Nicht-mehr-und-doch-immer-noch-da» sowie mit dem «Noch-nicht-und-eigentlich-doch-schon-da» auseinandersetzen. Im Schlaf aus Gefühlen und Gedanken gewobene Träume, die an Erfahrungen aus unserem wachen Dasein anknüpfen, verstehe ich als reaktiv: sie werden im Dunkel der Nacht in unseren Herzen und Köpfen geboren. Träume, die Visionen generieren, bezeichne ich als prospektiv.

Ein reaktiver Traum

Eine Tageszeitung hat kürzlich Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt, in einem Interview mit der Aussage zitiert, Gewalttaten wären keine Zufallsdelikte, sondern hätten System. Und weiter: «Wenn ich bei einem Vortrag sage, alle sollen aufstehen, die eine Betroffene von sexualisierter Gewalt kennen, ist der ganze Raum auf den Füssen. Wenn ich frage, wer einen Täter kennt, bleiben fast alle sitzen.»

Diese Aussagen haben mich veranlasst, dieser Zeitung zu ihrem Beitrag mit Agota Lavoyer folgenden Kommentar zu schreiben: «In einer Gesellschaft, die von Gier, Herrsch- und Vergnügungssucht sowie von Zerstörungswut geprägt ist, scheinen mir mehr oder weniger gewalttätige Grenzüberschreitungen in vielen Lebensbereichen und aller Art eher die Regel und nicht die Ausnahme. Und es gibt dabei nicht nur Täter*innen und Opfer, sondern vor allem auch viele Weg- und Zuschauer*innen.»

In der darauf folgenden Nacht war ich im Traum mit einer Gruppe mir nicht bekannter Menschen zu Fuss unterwegs. Zwei der Frauen, die dabei waren, wurden plötzlich aus dem Hinterhalt überfallen und brutal zu Tode zu würgen bedroht. Ich habe im Traum hilflos geschrien und bin erwacht: mit einem Gefühl von hoffnungsloser Ohnmacht, schrecklicher Wut und einem bitteren Zorn.

Es ist, was es ist. Sagt die Liebe. Darauf vertrauen, dass das, mit dem wir gerade konfrontiert sind, zu einer heiligen Ordnung gehört. Und durch die Erfahrung hindurchgehen. Als wäre es ein Spiel. (Erich Fried, 1979)

Am nächsten Tag wollte ich wissen, welche anderen Kommentare es zu diesem Beitrag in der Zeitung gibt. Es wurden sensationelle 551: so viele haben sich wie ich durch dieses Interview angesprochen und zum Schreiben einer Mitteilung bewegt gefühlt! 

Hier eine von mir subjektiv getroffene Auswahl von sieben Kommentaren, die mir in der Sache bemerkenswert erscheinen. Kommentare, wo jeder auf seine persönliche Art meine Seele berührt:

BL: «Ich kann gut nachvollziehen, wovon Frau Lavoyer spricht, wenn ich mich erinnere, was meine Söhne und meine Tochter von der Schule berichteten. Ich war entsetzt, wie meine Tochter (heute 23) schon mit 7 oder 8 Jahren berichtete, was Buben zu und über sie und ihre Freundinnen sagten und wie sie mit ihnen umgingen. Diese Buben waren nicht einfach so, die haben ein Modell nachgelebt: Mädchen sind dümmer, weniger wert etc. Meine Söhne berichteten Ähnliches vom Umgang zwischen Buben und Mädchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Jungs je übergriffig zu Frauen waren oder sind. Wenn ich aber sehe und höre, was sie beispielsweise aus der Garderobe des Fussballtrainings erzählen, würde ich trotzdem nicht die Hand ins Feuer legen. Und sei es nur dadurch, dass sie Kollegen eben nicht in die Schranken weisen. Und es geht wohlgemerkt nicht um physische Übergriffe oder gar Vergewaltigung. Es geht darum, dass die Männer sich immer noch offenbar nur durch das Narrativ männlicher «Überlegenheit» über Frauen als «richtige Männer» fühlen. Ich bin mir sicher, dass wir unsere Kinder nicht so erzogen haben. Aber wir sind eben nicht der einzige Einfluss …»

H: «Danke für diesen mutigen und klaren Artikel. Die Message, dass kaum ein Mann noch nie die Grenze überschritten hat, ist für betroffene Frauen wichtig. Es ist schwierig den eigenen Partner, Verwandten, Freund, Chef oder Kollegen damit zu konfrontieren, dass er zu weit geht. Je mehr über das Thema berichtet wird und je mehr Frauen darüber lesen und anfangen zu verstehen, dass es ok ist, dass sie solche Erlebnisse nicht ok finden, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie anfangen mutig und klar Grenzen zu setzen.»

CL: «Ich kann nachvollziehen, dass viele Männer sich hier empören und angegriffen fühlen. Aber, der Grund liegt darin, dass - wie Frau Lavoyer das auch erklärt - diese sexualisierte Gewalt in unserer Gesellschaft so alltäglich ist, dass viele Männer sich ihrer gar nicht bewusst sind. Auch ich als Frau, die unzählige Erfahrungen dieser Form gemacht hat, habe viele Sprüche und Anmachen lange verharmlost. Und doch muss ich zugeben, ich habe mich oft nicht wohl gefühlt. Und ja, ich habe teils sogar ein wenig Angst gehabt. Auch heute, wenn ich abends alleine unterwegs bin, gehe ich Männern aus dem Weg im Tram und Zug, ja überall eigentlich. Und ja, es ist nicht ok, dass es so ist. Auch plumpe Sprüche, ein Klaps, was auch immer, sind nicht ok. Vielleicht sollten die Männer, die sich über den Artikel empören, sich selbst und ihre Kollegen, Bekannten und Verwandten nochmals hinterfragen und sich dann darüber empören, dass alle Frauen sexualisierte Gewalt erleben.»

SF: «Ich würde mich sehr freuen, wenn alle Männer, die bisher sehr betupft reagiert haben, stattdessen beschreiben würden, was sie bisher alles unternommen haben, wenn sie sexistisches Verhalten anderer Männer beobachtet haben: Haben Sie z.B. den Kollegen darauf hingewiesen, wenn er sexistische Witze gemacht hat? Haben Sie je einen Beschwerdebrief geschrieben, wenn Sie sexistische Werbung gesehen haben? Haben Sie Ihren betrunkenen Kollegen davon abgehalten, eine Frau blöd anzumachen?»

P: «Viele Kommentare hier zeigen, wie mit diesem Problem umgegangen wird. Abwehrend, verleugnend, verharmlosend, abwertend. Wir können sicher sein, dass Agota Lavoyer heute noch mit Hasskommentaren und Vergewaltigungsandrohungen zugedeckt wird. So geht unsere Gesellschaft noch heute flächig mit sexualisierten Gewalttaten um. Als Mann schäme ich mich, wenn ich von meiner Frau und meiner erwachsenen Tochter höre, was sie an kleinen und grossen Übergriffen erlebt haben und immer noch erleben. Agota Lavoyer hat Recht. Wir Männer sind in der Pflicht und sollten endlich öffentlich gegen sexualisierte Grenzübergriffe aufstehen. Es ist eine Schande, was immer noch in Schlafzimmern, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Clubs, am Arbeitsplatz, in der Familie, beim Sport, im Schwimmbad und auf den Strassen geschieht. Opfer dieses patriarchalen Denkens sind übrigens nicht nur Frauen, sondern auch Queer und People of Color. Die Liste liesse sich wahrscheinlich noch um weitere Menschen erweitern, die in unserer unmittelbaren Nähe bedrängt und diskriminiert werden. Sie alle verdienen unsere Solidarität.»

AM: «Ich kann Frau Lavoyer nur danken für ihren unermüdlichen Einsatz zum Thema sexualisierte Gewalt. Ich bin über 50 und habe fast immer dazu geschwiegen. Habe nie das grosse Ganze dahinter gesehen. Habe mich zwar immer darüber aufgeregt, wenn sexistische Witze gemacht, oder Frauen generell die Intelligenz abgesprochen wurde. Aber so richtig gewehrt habe ich mich nie. Natürlich habe auch ich Belästigungen erfahren, wurde ungefragt an den Brüsten oder am Po berührt, in der Disco von hinten angetanzt, auf dem Heimweg beschimpft oder verfolgt. Auch Belästigungen am Arbeitsplatz oder im Sport waren ganz normal. Wenn ich mich dann mal gewehrt habe, kam sofort der Spruch, dass ich ne Spassbremse wäre oder sexuell frustriert, oder dass es doch nicht so gemeint war. Und schwupps lag das Problem bei mir, nicht beim übergriffigen Mann. Ich habe mich dann noch tagelang darüber aufgeregt, der Täter jedoch ist wieder ganz normal in den Alltag übergegangen. Es ist nicht so, dass mich diese Erfahrungen traumatisiert haben, aber sie haben einen Einfluss darauf gehabt, wie ich mich in der Öffentlichkeit bewege, wie ich mich nach Aussen zeige und vor allem, wie ich den Männern begegne. Ich habe schöne Beziehungen zu Männern geführt und werfe daher auch nicht alle Männer in einen Topf, aber eines hatten alle gemeinsam, sie waren sich nie bewusst, welches Ausmass an Belästigungen eine Frau erfährt nur aufgrund ihres Geschlechts. Es ist daher an der Zeit, dass Männer Verantwortung übernehmen!»

SS: «Vielen Dank für die klaren Worte. Schön, dass das Thema so rege diskutiert wird und etwas auslöst. Toll auch, dass konkrete Massnahmen im Umgang mit beobachteten Missständen und unangebrachten Äusserungen & Handlungen benannt werden. Viel Mut allen im Kampf gegen sexualisierte Gewalt.»

... und dann dazu persönlich noch dies: Was mich selber betrifft, wurde mir im Nachgang zur Auseinandersetzung mit diesem Zeitungsartikel, mit den Kommentaren dazu sowie mit meinem Traum unter anderem auch der Bezug zu einem Trauma bewusst, das ich eigentlich verarbeitet zu haben glaubte:

Vor vier Jahren hat mich auf einer Wanderung im nahen Wald ein mir nicht bekannter Mann im Zusammenhang mit dem frei Laufenlassen seiner drei Hunde, das meine Frau kritisiert hatte, zwei Mal brutal zu Boden gehauen und mehrmals mit dem Tode bedroht. Und die Staatsanwaltschaft hat ihn mangels an Beweisen nicht für schuldig befunden.

So viel zur Geschichte und dem Traum mit der Ohnmacht, der Wut und dem Zorn über die Rücksichtslosigkeit oder gar Brutalität bei Grenzüberschreitungen.

Hier noch drei weitere Beispiele von reaktiven Träumen:

  • Nicht vorbereitet sein: In einer Schule, die ich nicht kenne, soll ich unterrichten. Es geht gleich los. Ich bin aber überhaupt nicht vorbereitet und weiß nicht, was ich tun soll.
  • Im Verkehr stecken bleiben: Mit dem Auto unterwegs, komme ich in einen Verkehrskreisel. Und etwas zwingt mich, endlos rund herum fahren.
  • Unterwegs ins Ungewisse: Auf einer langen Wanderung kann ich immer weniger bis gar nicht mehr erkennen, wo ich bin. Ich finde den Weg zurück nur äußerst mühsam oder wahrscheinlich gar nicht mehr.

Bei diesen drei und ähnlichen Träumen erwachte ich mit dem Gefühl, zu etwas gezwungen worden zu sein bzw. mich zu etwas gezwungen zu haben, was ich eigentlich nicht wollte. In und mit Zwängen, die dazu anhalten, mit Kopf, Hand und Fuss etwas zu machen, was mir nicht gut tun kann: ein Verhaltensmuster, das ich im Wachsein nicht mehr weiter leben will.

Ein Albtraum und seine Auflösung

Mangels einer von Natur gegebenen Fruchtbarkeit und/oder Zeugungsfähigkeit soll menschliches Leben immer mehr künstlich erzwungen werden; und immer mehr Kinder in Geburtsfabriken zwangsweise mit Kaiserschnitt auf die Welt kommen. Um nachfolgend unter Krippenzwang ihr Dasein zu fristen. Weiter geht es jahrelang mit einem Anwesenheitszwang in Kindergarten und Schule. Ebenso entwürdigend wie wirkungs- und zahlreich sind im Erwachsenenalter die Zwänge im Alltag und im Beruf, von denen sich in der «Zuvielisation» viele wohl verzogene Menschen jahrzehntelang beherrschen lassen. Sie werden mit immerzu und überall präsenter Propaganda dazu angehalten, zu denken und zu tun, was in Tat und Wahrheit ihnen selber sowie andern und der ganzen Erde nicht wahrhaftig und wirklich wohl tun kann. Viele machen gut gemeint mit. Bis sie dereinst medizinisch perfekt bis zur maximal möglichen Dauer am Leben gehalten, in Todesfabriken einsam ihre leibhaftige Erlösung finden dürfen ... und ihre Seelen - lebenslang wie ein Schmetterling vom Kokon gefangen - werden in die unendliche Freiheit fliegen.

Ein prospektiver Traum

Nach meiner oft zermürbenden Erfahrung gibt es in der real existierenden, hoch «zuvielisierten» Gesellschaft sowie in ihrer real praktizierten Politik erstens die Dummen: sie wissen nicht was (sie) tun. Zweitens die Gleichgültigen: sie tun nichts. Drittens die Schlauen: sie tun nur, was ihnen selber nützt. Viertens die Gemeinen: sie hauen dafür die andern in die Pfanne. Und wenn sie zusammen die Mehrheit bilden, dann wird es für und in der Demokratie schwierig bis unmöglich, eine kollektive Intelligenz zu stärken, die zu für alle und alles umfassend tragfähigen Entscheidungen führen und sie gemeinsam tragen kann.

Die gängige Politik ist zudem mit Elementen beispielsweise der Bürokratie (Herrschaft der Verwaltung), der Expertokratie (Herrschaft der Wissenschaft), der Plutokratie (Herrschaft des Geldes) und der Technokratie (Herrschaft der Maschinen) durchsetzt. Vor allem Letztere ist wenig geeignet für einen herzhaft liebevollen und friedfertigen Umgang mit unserer Erde und allem, was darauf kreucht und fleucht.

Wir scheinen in einer Welt zu leben, die sich wie auf einem Karussell und immer noch schneller im Stillstand im Kreis dreht: mit extrem viel Aufwand aber ohne eine in existenziell wichtigen Fragen erwünschte oder notwendige Wirkung.

Wirkungslosigkeit kann insbesondere auch ein Charakteristikum der Politik sein. Weil und wenn sie im Kampf- und Machtschach-Modus betrieben wird. Oft kommt es so zu Entscheidungen, die bei weitem nicht allem und allen gerecht werden können. Obwohl von einer Mehrheit demokratisch legitimiert, können solche Entscheidungen auch kaum von Dauer sein. Dafür braucht es eine andere Politik. Mögen wir dafür von Herzen aus Liebe und mit Freude den Frieden finden und leben.

Aus Tagträumen können Visionen werden, die uns durch unser Leben leiten und in die Ewigkeit begleiten. Träume, die Visionen generieren, bezeichne ich als prospektiv. Eine Vision kann aus meiner Sicht nicht zu gross, und sie kann auch nicht zu klein sein. Meine Visionen kennen vor allem ein Hier und ein Jetzt. Sie brauchen weder ein Vorher, noch ein Nachher. Sie sind nichts: und sie sind alles.

Deine, meine und unsere Welt wahrzunehmen, wie sie ist, und für Dich, mich und für uns alle gemeinsam einen freud- und friedvollen Weg in eine andere Welt zu sehen und zu gehen, kann sehr anspruchsvoll sein und bleiben.

Stell Dir prospektiv träumend vor: Du lebst in einer Gemeinschaft, in der Deine Stimme wirklich gehört wird, in der Du mitgestalten und Dich offen für Deine Bedürfnisse, Ideen und Interessen einsetzen kannst. Und stell Dir vor: dieser Einsatz zeigt tatsächlich eine erwünschte Wirkung!

Stell dir vor, wir gehen als Gemeinschaft emphatisch, respektvoll und wertschätzend miteinander um, hören uns zu, gehen aufeinander ein und setzen uns miteinander auseinander. Gerade auch dort, wo es Konflikte gibt und es schmerzhaft wird! Um dann gemeinsam die für alle und für alles bestmöglichen Lösungen für die Zukunft zu entwickeln.

... und der Dichter Erich Fried (1921-1981) schrieb:

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe


 

Über

Ueli Keller

Submitted by cld on Fr, 09/22/2023 - 19:44
Ueli Keller

Ueli Keller ist ausgebildet als Lehrer und als Heilpädagoge, als Supervisor- und Organisationsentwickler sowie als Bildungswissenschaftler. Er war 45 Jahre in mehreren Berufsfeldern lohnerwerbstätig. Seit 2012 pensioniert, ist er als frei schaffender Bildungs- und Lebensraumkünstler mit Herz, Kopf, Hand und Fuss in diversen Tätigkeitsfeldern unterwegs. Unter anderem europaweit als Koordinator des Netzwerks «Bildung & Raum» sowie als Botschafter für Neue Politik (www.einestimme.ch).