Warum Menschen die Natur zerstören 

Maschinendenken und Entstehung der Technokratie 
Veröffentlicht: 11. Jul 2024 - Zuletzt Aktualisiert: 11. Jul 2024

Julia Weiss setzt sich auf dem Portal multipolar mit dem Kampf der Menschen gegen die Natur auseinander und verweist dazu auf ein Buch der Wissenschaftshistorikerin Carolyn Merchant. Carolyn Merchant, 1936 geboren, graduierte zunächst in Chemie und Philosophie, promovierte dann in Wissenschaftsgeschichte und ist bis heute Professorin für Umweltgeschichte, -philosophie und -ethik in Berkeley. In ihrem 1980 erschienenen Buch «Der Tod der Natur» geht es ihr um den Übergang von der mittelalterlichen Vorstellung von der Natur als einer Mutter zu dem mechanistischen Bild, das die wissenschaftliche Revolution in der Renaissance mit sich brachte. Julia Weiss zum Buch: «Mit ihrer minutiösen Analyse legt Merchant Wurzeln frei, die bis heute ausschlaggebend für unsere Vorstellungen von Modernität, Fortschritt, Wissenschaft, Moral und Gesellschaft sind.»  

Von jeher, sagt Carolyn Merchant, besteht eine Beziehung zwischen den Frauen und der Natur, die quer durch jede menschliche Kultur, Sprache und Geschichte nachzuweisen ist: Die Natur wird als nahrungsspendende Mutter gesehen und die weibliche Erde als Lebewesen. Das impliziert eine umfassende Moral: Man tut, was in menschlicher Macht steht, um die Fruchtbarkeit der grosszügigen Spenderin allen Lebens zu fördern, zu erhalten und zur jährlichen Rückkehr zu bewegen. «Man schlachtet nicht so mir nichts dir nichts eine Mutter.» Allerdings hat Mutter Natur von jeher auch eine wilde, dunkle, gefährliche Seite. Diese bricht von Zeit zu Zeit in Stürmen, Fluten, Erdbeben oder Missernten hervor. Die enge Verbindung des Menschen zu «Mutter Erde» wurde durch die Kommerzialisierung und Technisierung im 16. und 17. Jahrhundert gelockert und mehr und mehr unterbunden. Dazu Merchant: «Mit dem 16. und 17. Jahrhundert war die Diskrepanz zwischen technischer Entwicklung in der Welt der Tat und leitenden organischen Metaphern in der Welt des Geistes übergross geworden. Die alten Strukturen waren mit den neuen Aktivitäten unvereinbar.» 

Es entstand das mechanistische Weltbild, das auch heute noch das Denken und Handeln in der westlichen Gesellschaft durchdringt. In diesem Weltbild besteht alles aus toter, unbeseelter Materie, die sich nach ewigen, unabänderlichen Gesetzen bewegt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Maschine zur leitenden Metapher in Wissenschaft und Gesellschaft geworden. Und Naturbeherrschung ist und war ein permanenter Kampf gegen die Natur. Francis Bacon, Wegbereiter des Empirismus, schreibt denn auch Erschreckendes zum Kampf gegen die Natur: «Die weibliche Natur darf man nun niederhalten, um der Unwilligen «ihre Geheimnisse zu entreissen», wie Bacon es ausdrückt. Ihr Körper soll «in Fesseln» gelegt werden, um ihn «eingehend untersuchen und befragen» zu können. Denn ihre Geheimnisse gibt die Natur nicht freiwillig preis: Man muss sie «jagen», «treiben», «zwingen», «einengen», «formen», «binden», «ausspionieren» und «versklaven». Es müssen ihre Schleier zerrissen, es muss der Natur ihre Heiligkeit gewaltsam genommen werden.» Merchant sieht in Bacons Metaphern eine deutliche Verbindung zu den Hexenprozessen, die im 16. und 17. Jahrhundert in ganz Europa stattfanden. Weiss bezieht sich auf Merchant: Bacons ultimatives Ziel ist es, «eine Anatomie der Welt» zu erstellen. In diesen Metaphern hat man es nicht mehr mit einer widerspenstigen Hexe zu tun, sondern mit dem «Leichnam der Natur», wie Bacon selbst es nennt.  

In Bacons Stadt der Glücklichen regieren allein die Wissenschaftler und Ingenieure; heute würde man das eine Technokratie nennen. Mit erstaunlich weitsichtiger Phantasie schildert Bacon die Erfindungen, die dort gemacht werden. Alles geschieht zum Wohle der Menschheit, insbesondere (wie heute angeblich auch) ihrer Gesundheit. Pflanzen und Tiere dagegen werden wie Gegenstände behandelt. Kein Mitbürger wird gefragt, was er für sein Wohl hält. Das wissen die patriarchalisch orientierten Technokraten besser. So kommen keine Konflikte auf: «In einem «sozialen Mechanismus» wird nicht gestritten; es gibt nur das Ganze und seine Teile, die alle nach objektiven Gesetzen möglichst reibungslos funktionieren sollen. Für diesen effizienten Ablauf sind allein Ingenieure und Wissenschaftler zuständig, nicht irgendein dahergelaufenes Volk, und diese Experten stehen genauso ausserhalb und oberhalb des Systems wie ein Ingenieur oder Maschinenführer ausserhalb seiner Maschine.» Weiss resümiert: Angewendet auf die Gesellschaft, bringt das mechanistische Weltbild zwangsläufig ein autoritäres, letztlich totalitäres Ideal hervor: Damit die soziale Maschine funktioniert, müssen wie bei einer echten Maschine alle und alles ständig überwacht und kontrolliert werden. 


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