Die abgewandte Seite des Mondes
Über die Vorderseite des Mondes haben wir Jahrtausende philosophiert, Verse geschmiedet, Lieder gesungen, die Rückseite hat uns nicht interessiert, ebenso wenig, wie wir je die Rückseite der Mona Lisa betrachten wollten. Warum eigentlich?
Was hat der Mensch nicht alles im Mond gesehen, den Mann natürlich, die Krater nie, allenfalls Meere, den Jadehasen im Osten, ein Kaninchen in Lateinamerika, aber auch ein Krokodil, und – ungewöhnlich genug – eine Frau mit einem Reisigbündel auf dem Rücken.
Das geht ja alles noch an und lässt sich einfach erklären. Solange der Mond keine Kugelform hatte, konnten wir uns seine Rückseite noch nicht einmal vorstellen. Doch auch, als die schon präziseren astronomischen Instrumente den Mond als Himmelskörper zu erkennen gaben, blieb unser Desinteresse am Allerwertesten des Mondes auffällig.
Mit Dezenz hatte das natürlich nichts zu tun, allenfalls mit einer ganz alltäglichen Teildemenz. Über den Tellerrand des Normalen hinauszudenken – wozu? Ich muss mich um den TÜV für mein Auto kümmern, um den Kindergartenplatz, muss Zähne putzen, E-Mails abarbeiten, Fussball schauen oder die Geburtstagsparty meiner Tochter organisieren, was interessiert mich da die Rückseite des Mondes! Eben, sag ich doch.
Gibt es Leben ohne Innenleben?
Und jetzt kommt die steile These. Festhalten! Alles ist wie der Mond, die Tomate, die Ameise, meine alternde Nachbarin, mein katzenvergnügtes Kind, die zierliche Anemonenblüte, die Warzenkröte, die Klapperschlange, das Orinoko-Krokodil. Ausnahme: ich. Von mir weiss ich, dass ich Mond bin. Ich kenne meine Rückseite. Ich meine nicht meinen Popo im Spiegel, sondern mein Innenleben. Es ist die Innenseite meiner Aussenseite. Auch du kennst sie, jede und jeder von uns. Und weil ich meine Innenseite kenne – wenigstens ein bisschen, Freud lässt grüssen –, gestehe ich sie auch dir zu. Und konsequent zu Ende gedacht auch dem Bonobo, dem Hängebauchschwein, dem Mausmaki, dem Spitzhörnchen und der Beutelratte.
«Natürlich!», wirst du sagen. «Klar, kenne ich, auch meine Katze hat ein Innenleben und vermutlich auch mein Wellensittich. Das sind doch Banalitäten!» Aber wie steht’s dann mit der Warzenkröte und der Klapperschlange? Ja, die auch, mag es uns auch missfallen, dass «solche Viecher» am Ende so ähnlich fühlen wie wir. Und, um die Frage auf die Spitze zu treiben, haben auch die Einzeller ein Innenleben? Oder die Frage andersherum angegangen: Ist denn der Mond ohne Rückseite heute noch vorstellbar, der Mitmensch ohne Innenleben, die Aussenseite ohne Innenseite? Ist am Ende das Vorhandensein einer Innenseite die Voraussetzung für Leben überhaupt? Ist ein Leben ohne Innenleben nicht gleichbedeutend mit «tot»? Dann gilt das auch für jeden Grashalm.
Die Beschränkungen des Tellerrandes
Das alles sind Fragen, denen man mal ein bisschen Hirnschmalz widmen könnte; in diesem Zusammenhang interessiert mich aber hauptsächlich die Ausgangsfrage: Warum interessieren wir uns – in der Regel – nur für die Oberfläche und nicht für das, was darunter liegt? Eine einfache und gewiss auch treffende Antwort: aus reiner Faulheit. Nachdenken macht Mühe und Energie sparen ist angesagt. Lieber schauen wir Fussball oder frönen einer anderen Berieselung. Doch gibt es meines Erachtens zwei weitere Gründe, weshalb wir uns für die Innenseite des Lebens so wenig interessieren:
Erstens, weil das Innenleben anderer Lebewesen nicht zu unserem Weltbild gehört, wir noch nie davon gehört haben und es folglich gar nicht bemerken KÖNNEN, solange wir uns den Beschränkungen unseres Tellerrandes fügen.
Zweitens, weil sich Innenleben nicht vermessen und folglich nicht bewerten lässt. Wir wissen ja noch nicht einmal, wie Empfinden und Empfindungsfähigkeit zusammengehören, wie aus Erkennen Erkenntnis, wie aus Bewusstsein Bewusstheit wird. Gestände ich dem Ärgsten meiner Feinde so viel Innenleben zu wie mir, so müsste ich mit ihm umgehen wie mit mir.
Ich müsste dann meine hauptamtliche Tätigkeit beim CIA augenblicklich kündigen, meinen Job als Staatsanwalt oder als Aussenministerin an den Nagel hängen. Jedes Parteiprogramm und Schwert fiele mir aus den Händen und jede Beleidigung von den Lippen. Und mir bliebe nichts anderes übrig, als Leben unter Lebendigem zu sein, gleicher Mensch unter gleichen Warzenkröten.
von:
Über
Bobby Langer
*1953, gehört seit 1976 zur Umweltbewegung und versteht sich selbst als «trans» im Sinn von transnational, transreligiös, transpolitisch, transemotional und transrational. Den Begriff «Umwelt» hält er für ein Relikt des mentalen Mittelalters und hofft auf eine kopernikanische Wende des westlichen Geistes: die Erkenntnis nämlich, dass sich die Welt nicht um den Menschen dreht, sondern der Mensch in ihr und mit ihr ist wie alle anderen Tiere. Er bevorzugt deshalb den Begriff «Mitwelt».
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