Verlasst die Städte

Biokonstruktion ist mehr als bloss Bauen mit natürlichen Materialien wie Lehm, Stroh oder Holz. Wie der erste internationale Kongress für Biokonstruktion in Argentinien zeigte, geht es auch um die Konstruktion einer neuer Lebensform.

Jorge Belanko hat Hände wie Bärentatzen; wenn er spricht, ist man gut beraten, ihm zuzuhören. «Die Biokonstruktion steht in direktem Zusammenhang mit dem Recht auf ein Stück Land. Denn ohne Land, keine Erde und ohne Erde keine Biokonstruktion.» Jorge Belanko, in Argentinien der Lionel Messi des Lehmbaus, zog in den 80er Jahren mit seiner Familie nach El Bolsón in Patagonien, suchte sich ein Stück Land und baute sein Haus darauf, und all dies ohne Plan oder Genehmigung. «Man drohte mir mit der Gendarmerie, mit der Polizei, mit einer Busse und auch mit dem Abriss des Hauses, doch ich wohne nach wie vor dort», erzählt er.

Das Recht auf ein Stück Land ist eines der Puzzleteile der Biokonstruktion, das während des Kongresses in Mar del Plata ans Licht gefördert wurde. Man spürte während den drei Tagen, zu denen BesucherInnen aus Argentinien, Uruguay, Chile und selbst Deutschland angereist waren, dass es nicht nur um den Bau mit nachwachsenden Materialien ging, sondern um den Bau einer Lebensform in Harmonie mit der Natur.
Heute leben mehr als die Hälfte der Menschen in Städten oder stadtnahen Gebieten; in Lateinamerika sind es beinahe achtzig Prozent. Das fortschreitende Landgrabbing ist dadurch schwierig zu erkennen. Dabei kaufen Firmen aus «Industriestaaten ganze Landstriche in der Dritten Welt, um die Ressourcen auszubeuten. Realitäten, die die StadtbewohnerInnen des 21. Jahrhunders, egal ob aus Zürich oder Buenos Aires, scheinbar nicht mitbekommen (wollen). Sie haben die Industrie genauso akzeptiert wie den Ausverkauf der Erde.
Aussagen wie diese kamen nicht von den üblichen Globalisierungskritikern, sondern von Jorge Czajkowski. Der Direktor des Laboratoriums für Architektur und nachhaltigen Wohnraum der Universität La Plata drückte sich unmissverständlich aus. «Was den Energieverbrauch betrifft, befindet sich unsere Konsumgesellschaft auf direktem Weg in den Suizid.» Deutliche Worte wählte auch Architektin Isabel Donato. Sie ist wie Belanko eine Vorreiterin der Biokonstruktion. «Die Städte haben ihren Zweck erfüllt. Sie dienen höchstens noch als Museum», sagte sie und schloss mit dem Aufruf: «Verlasst die Städte!»

Doch wer die Stadt verlässt, braucht ein Stück Land. Und dieses ist teuer geworden, insbesondere an der nördlichen Atlantikküste Argentiniens, wo in den vergangenen Jahren unablässig gebaut wurde. 500 Quadratmeter Land kosten heute rund 40‘000  Dollar. Zum Vergleich: Der argentinische Durschnittslohn liegt unter 1000 Dollar pro Monat und verliert angesichts der anhaltenden Inflation wöchentlich an Wert. An der Küste zeichnet sich deshalb eine ähnliche Entwicklung ab, wie an den Stadträndern von Buenos Aires, Rosario oder Cordoba: Es wachsen nicht nur Ghettos der Armen, sondern auch die der Reichen. In so genannten barrios cerrados (geschlossene Viertel) schottet sich die argentinische Oberschicht ab. Neuerdings, und dies entbehrt nicht ganz der Ironie, sogar in Lehmhäusern.
Diese Entwicklung auf dem Immobilienmarkt hat Jorge Belanko so nicht antizipiert, als er 2008 den Lehrfilm «El barro, los manos, la casa» (Der Lehm, die Hände, das Haus) drehte. Darin gibt der Humanist jenes Kulturgut weiter, das wir mit der Flucht in die Stadt und ins Digitale zunehmend verlieren: den Bau des eigenen Hauses. Die Dokumentation, eine Anleitung zum Selberbauen, ist Ursprung für die aktuelle Lehmbau-Euphorie im Land. Seither ist Belanko fast ununterbrochen unterwegs. Ob an Workshops von Mexiko bis Feuerland oder an Kongressen wie dem in Mar del Plata – er wird gefeiert wie ein Popstar. Seine Forderung bezüglich Landbesitz jedoch geht im Enthusiasmus um den wiederentdeckten Baustoff Lehm und im Personenkult um Belanko selbst oft unter.
Indirekt aufgenommen wurde Belankos Anliegen schliesslich am letzten Kongresstag von Gernot Minke. Er ist Leiter des Forschungslabors für Experimentelles Bauen an der Universität Kassel, Autor zahlreicher Bücher und weltweit tätiger Experte für Lehmbau. Während der Diskussion zur staatlichen Regulierung des Lehmbaus mahnte er zur Vorsicht: «Gesetze dienen meistens der Industrie und berücksichtigen nicht die Ideen von Kleinunternehmern.» Der 77-Jährige bezog sich auf seine Erfahrungen aus Deutschland, wo die Industrie längst Teil der Lehmbaukultur geworden ist und wo technische Vorschriften wichtiger sind als das universelle Recht auf ein Stück Land. In Lateinamerika spielen Industrie und Staat eine andere Rolle. Hier regiert nach wie vor der Spirit der autoconstrucción, des Selbstbauens. Man baut mit lo que hay – also damit, was einem zu Verfügung steht. Ob mit oder ohne staatliche Regelung.  
«Die Biokonstruktion ist ein Prolog», pflegt Jorge Belanko zu sagen. «Sie ist ein Prolog dafür, dass wir Menschen uns wieder zusammentun und versuchen in Harmonie mit unserem Umfeld zu leben.»         


_________________

Gernot Minke: Handbuch Lehmbau. 2012, Ökobuch Verlag. Geb. mit über 400 Abb. S.222 Fr. 49.50 /€ 38.-      www.gernotminke.de

Jorge Belanko: El barro, los manos, la casa. Red Decrecimiento Sevilla. Unter diesem Titel zu finden auf youtube und vimeo