Am Rande der Milchstrasse
Für viele Menschen in meinem Umkreis hat das Jahr ruhig begonnen. Kein rauschendes Fest. Intimität, Besinnlichkeit, Einkehr waren angesagt. Es ist, als bereiteten sich die Menschen intuitiv in Ruhe auf das vor, was kommt. Keine Ruhe vor dem Sturm, sondern die Ruhe im Sturm.
The Party is over. Kein Grund zum Feiern. In Deutschland machen die Feuerwerke vor allem deshalb Schlagzeilen, weil sie Schaden anrichten.
Ich habe mir, same procedure as every year, Frank Capras «It’s a wonderful life» angeschaut. Wieder will sich George Bailey aufgrund eines Missgeschickes am Weihnachtsabend von einer Brücke stürzen, wieder hindert ihn der etwas einfältig wirkende Engel Clarence daran, wieder wird George damit konfrontiert, wie die Welt aussähe, wenn es ihn nicht gegeben hätte. Und wieder löst sich alles noch in der Weihnachtsnacht auf. George erkennt den Wert des Lebens und Clarence bekommt seine Flügel.
Ja, wie sähe die Welt wohl aus, wenn es uns nicht geben würde? Wäre sie besser? Schlechter? Wäre es egal? Kommt es auf einen mehr oder weniger an? Sind wir nicht ohnehin zu viele? Sollten wir nicht besser so schnell wie möglich wieder verschwinden, bevor wir noch mehr Schaden anrichten? Ist der Mensch nicht sowieso eine Fehlkonstruktion, ein unnützer Esser, ein gefährlicher Ausatmer? Was machen wir hier überhaupt, wir Menschen?
Angesichts der Weite des Kosmos ist selbst unser Planet nichts weiter als ein Sandkorn in der Wüste, ein Winzling am äusseren Rand der Milchstrasse, zusammengesetzt aus mehreren hundert Milliarden Sternen, Gasnebeln und Staubwolken. Was sind daneben schon ein paar tausend Zuschauer, die ihre Tränen der Rührung vergiessen, wenn George Bailey seine Familie und seine Freunde wiederfindet? Was ist der Mensch schon angesichts der Unendlichkeit der Universen?
Dem Sternenstaub, der ich bin, ist es egal, wie klein er ist und wie unbedeutend, wenn man von oben auf ihn herabschaut. Ich bin berührt. Von da, wo ich bin, ist die Erde gross, sind die Lebewesen und Landschaften von unschätzbarem Wert. Und vor allem auch der Mensch, der Teil dieses grossen, untrennbaren Zusammenspiels ist. Fällt ein Teil heraus, fehlt dem Ganzen etwas. Wird die Vielfalt reduziert, fällt das Gesamte aus dem Gleichgewicht.
So klein etwas auch ist: Es hat seine Bedeutung. Wäre es sonst da? Dann, wenn wir die Bedeutung nicht sehen, können wir sie den Dingen geben. Wir haben die Macht, Bedeutung zu erschaffen. Denn wir haben Gefühle. Wir können lieben. Wie der Kleine Prinz von Antoine de Saint Exupéry, der seine Rose liebt, die es nur ein einziges Mal gibt auf all den Millionen und Millionen Sternen, kann ein Mensch ein einziges Lebewesen so sehr lieben, dass für ihn alle Sterne ausgehen, wenn es verschwindet.
Auf den Betrachtenden kommt es an. Das lehrt uns die Quantenforschung. Wir verleihen dem Wahrgenommenen Existenz. Wie wir die Dinge sehen, so verhalten sie sich. Mit welchem Auge also schauen wir in diesem Jahr auf die Welt? Voller Panik, mitgerissen von den Ereignissen? Oder aus unserer Mitte heraus, ganz ruhig, in dem Bewusstsein, dass von oben gesehen alles seine Ordnung hat. Oder glauben wir etwa, dass das Universum sich irrt und seine Gesetze nicht kennt?
Was jetzt auch auf der Bühne erscheint: Es ist nicht mehr als Sternenstaub auf einem winzigen Punkt am Rande der Milchstrasse. Unser Zuhause. Hier können wir tun, was der kleine Prinz auch tut: unsere Rose begiessen. Das pflegen, schützen und nähren, was uns am Herzen liegt. So klein und unbedeutend es von oben auch erscheint: Für uns ist es die Welt. Ohne uns würde es sie nicht geben. Lassen wir sie nicht im Stich.
von:
Über
Kerstin Chavent
Kerstin Chavent lebt in Südfrankreich. Sie schreibt Artikel, Essays und autobiographische Erzählungen. Auf Deutsch erschienen sind bisher unter anderem Die Enthüllung, In guter Gesellschaft, Die Waffen niederlegen, Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Krankheit heilt und Was wachsen will muss Schalen abwerfen. Ihre Schwerpunkte sind der Umgang mit Krisensituationen und Krankheit und die Sensibilisierung für das schöpferische Potential im Menschen. Ihr Blog: „Bewusst: Sein im Wandel“.
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