Vom Verschwinden des Sonntags

Was ist mit dem Sonntag geschehen? Gestern habe ich ihn den ganzen Tag gesucht und nirgends gefunden.
Einst – ich kann mich noch genau erinnern – war jeder Sonntag ein Fest, man wusch sich den Hals und die Ohren und zog ein weisses Hemd an. Mittags traf sich die ganze Familie zum Sonntagsessen, das damit endete, dass alle nur noch dösten und in der Wohnung wie gestrandete Wale herumlagen. Erst der Duft des schwarzen Kaffees weckte uns aus dieser Benommenheit. Behutsam standen wir auf und langsam, denn keine Bewegung durfte schnell und plötzlich vor sich gehen. Der Sonntag war der Tag der Langsamkeit, der Tag der Faulheit, ein Tag, den man so verbrachte, als wäre ihm nichts vorausgegangen und als würde ihm auch nichts mehr folgen. «Sonntag – ein Tag ohne Zukunft», meinte der Dichter Raša Livada. Ich weiss nicht, was er im Sinn hatte, als er diesen Vers niederschrieb, für mich ist das jedoch die schönste Beschreibung des Sonntags, wie er einmal war und nicht wie er jetzt ist und wie er gestern war, als ich aus dem Haus ging.
Früher waren am Sonntag die Geschäfte geschlossen. Man konnte zwar hier und dort Brot, Milch und Pasteten kaufen. Auch waren die Zeitungskioske bis zehn Uhr offen. Alles Übrige aber war zu und genoss die sonntägliche Ruhe.
Zum Wochenmarkt ging man samstags. Der Samstag war der richtige Tag, um Paprika, Wassermelonen und Kajmak zu kaufen. Am Sonntag ging man höchstens zum Markt, wenn man am Samstag nicht dazu gekommen war. Das Angebot am Sonntag war übrigens nur noch ein blasser Abklatsch des samstäglichen Überflusses.
Der Sonntag war der Tag für Ausflüge. Wir bestiegen den Avala-Berg, als eroberten wir den Mount Everest, und rannten dann die Hänge hinunter, bis wir müde wurden und Butterbrote, hart gekochte Eier, Käseecken und rote Äpfel auspackten.
Sonntags währte die Mittagsruhe in unserem Hof länger. Wir spielten nicht Fussball, warfen nicht mit dem Ball gegen die Wand. Wir schwiegen sogar beim Murmelspiel. Erst am späten Nachmittag, wenn die Dämmerung schon über den Himmel kroch, unterhielten wir uns lauter und ungezwungener, obwohl unsere Stimmen auch dann nicht so schallten wie an anderen Tagen.
Der Sonntag war ein langsamer Tag. Ein Tag der Erholung. Ein Tag, an dem um die Mittagszeit in der ganzen Stadt die Suppenlöffel einträchtig klimperten, an dem die Strassen verödet waren und die öffentlichen Verkehrsmittel leer fuhren.
«Sonntag – ein Tag ohne Zukunft». Ein Tag, an dem man die Vergangenheit vergass und nicht an die Zukunft dachte. Die Vergangenheit war der hektische Samstag, den man möglichst schnell aus der Erinnerung löschte, die Zukunft kam mit dem Montag, dem schrecklichen Tag, der den Beginn einer neuen einförmigen Woche einläutete.

Der Sonntag war etwas wie ein Paradiesgarten, ein Tag zwischen Wirklichkeit und Traum. Ein Tag, an dem man alles beginnen konnte, aber nichts zu Ende führen musste. Ein Schloss weder im Himmel noch auf der Erde.
Als ich gestern das Haus verliess, dachte ich, es sei Donnerstag oder Freitag oder sonst ein beliebiger Tag. Nur kein Sonntag. Denn alle Geschäfte waren geöffnet: der Obst- und Gemüseladen, der Supermarkt, sogar die Apotheke.
Nur die Bank war geschlossen. Aber etwas anderes erwartete ich von der Bank auch nicht, in der ganzen Welt arbeiten die Banken weniger als alle anderen. Wenn auch noch die Banken sonntags arbeiten würden, wäre das ein Zeichen, dass uns der Weltuntergang bevorstünde.
Dann machte ich mich auf die Suche nach dem Sonntag. Ich schaute in viele Wohnhäuser, lief am Fluss entlang, erkundigte mich bei Menschen, die auf den Bus warteten, fragte Buben und Mädchen mit Kopfhörern, aber niemand konnte mir eine Auskunft geben. Alle zuckten die Achseln, und ihre Blicke zeigten, dass sie meine Frage nicht verstanden, als gehörte das Wort Sonntag zu einer toten und vergessenen Sprache, die nur einige Linguisten und Archäologen noch verstehen.
Wie schön war doch früher der Sonntag! Man schlief länger, man frühstückte später, jeder durfte nach Herzenslust bummeln. Man ging zum Fussballspiel, dann machte man einen Spaziergang am Fluss entlang, und zum Ausklang des Tages bestellte man Palatschinken mit Schokolade und Walnüssen. Der Abend schlich schon über den Himmel, aber niemand achtete darauf, denn wir wussten: Der Sonntag war anders als alle anderen Tage und würde eigentlich nie zu Ende gehen.
Dann aber geschah etwas, und der Sonntag verschwand. Was wir auch taten, wie sehr wir uns auch bemühten, wir konnten ihn nicht mehr finden. Er hatte sich beleidigt irgendwohin zurückgezogen, irgendwo versteckt, wo man immer noch die einfache Regel beachtet: Sechs Tage sollst du arbeiten und am siebten ruhen, Bücher lesen, Gedichte schreiben, Ausflüge ins Grüne machen, anders sein, als du es sechs Tage lang warst. Sei an dem Tag anders, damit du an den übrigen Tagen immer der Gleiche sein kannst. Verlangsame deinen Rhythmus. Finde eine langsame Melodie und lausche ihr den ganzen Tag. Geniesse die Langsamkeit. Sag zu dir selbst: «Ich bin zwar langsam, aber wäre ich schneller, wüsste ich nicht, dass es mich gibt.»
Ja, es ist höchste Zeit, dass wir den Sonntag zurückholen. Tun wir es nicht bald, geht er uns für immer verloren. Und das Leben ohne Sonntag, ohne einen Ruhetag, ist kein Leben mehr, sondern ein tristes Karussell, das sich ständig dreht und nur einmal stehen bleibt – wenn es für alles zu spät ist.



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Der serbische Schriftsteller David Albahari (*1948) lebt in Calgary und Belgrad. Seit kurzem liegt bei Schöffling sein neuer Roman «Der Kontrollpunkt» vor. – Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann.
17. Dezember 2013
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