Der innere Zwingli

Ach Gott, so gut wie du möchten wir es auch mal haben! Sechs Tage lang schaffen und machen und probieren und kreieren. Und sich dann am siebten Tag sich hochzufrieden mit dem eigenen Werk in die Hängematte legen. Faulenzen. Sich selbst feiern und grossartig finden.
Den idealen Sonntag stelle ich mir genau so vor: Glücklich wie Gott auf das im Laufe der Woche Geschaffene schauen. Mit der Familie oder Freundinnen eine Runde durch die Landschaft drehen. An einem See einen Milchkaffee trinken, den wallenden Wellen und blurrenden Blässhühnern zuhören. Sich in Musse von der Muse küssen lassen.
Aber das war einmal, wenn es überhaupt je war. Für die meisten Menschen, auch für mich, ist der Sonntag zur Restekiste verkommen, wo das entsorgt, aufgeräumt und erledigt werden will, was das hochkomplizierte moderne Leben in der Woche an Unerledigtem hinterlassen hat. Mails beantworten. Websites auf den neusten Stand bringen. Bürokratischen Mist beiseite schaufeln, den ganzen Ärger mit dem Finanzamt, der Telefongesellschaft, den Handwerkern. Offiziell ist unsere Arbeitszeit kürzer denn je, inoffiziell wühlt sie sich immer tiefer in unsere Privatangelegenheiten.

Dabei bin ich eine Zeitprivilegierte. Unter der Woche hocken die Festangestellten festgeschraubt auf ihren Arbeitsplätzen, während ich als freie Autorin tun und lassen kann, was ich will. Kein Chef redet mir rein. Niemand.
Niemand? Gestern zum Beispiel leuchtete der Himmel so wunderschön, und ich hätte mich den ganzen Tag von der Sonne kitzeln lassen können. Hab mich nicht getraut. Das geht doch nicht. Wenn die anderen arbeiten, kann ich mich doch nicht vergnügungssüchtig in der Landschaft suhlen. An einem Werktag muss man doch werken.
Wer ist denn dieser miese kleine Spielverderber, der mir das ins Ohr flüstert und mir nix gönnt? Der tief in uns allen hockt und uns ständig zur Arbeit scheucht? Max Weber nannte ihn das protestantische Arbeitsethos, ich nenne ihn den verinnerlichten Luther oder Calvin oder Zwingli. Diese Zwangsarbeitsverwalter predigen so laut wie eh und je, dass wir nicht auf der Welt sind, um zu geniessen, sondern um hart, härter, am härtesten zu arbeiten.
Zwingli, hör auf, mich zu zwingen. Das nächste Mal geh ich an den See und schmeiss dich den Blässhühnern zum Frass vor.



Mehr über das Verschwinden des Sonntags im Schwerpunktheft «Am siebten Tag»
08. Januar 2014
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