Die Liebe in Zeiten der Fernwärme und Nahdistanz
Geschichten unserer Leserinnen und Leser
Wiedersehen nach acht Jahren
Als ich meinen Freund zum ersten Mal sah, war er 35 und ich 19 – und beide auf Reisen in Australien. Wir haben uns sofort ineinander verknallt, der grosse Altersunterschied machte mich allerdings sehr zurückhaltend. Zurück in Europa versuchten wir die Beziehung irgendwie aufrecht zu erhalten, doch das war nicht einfach: er in Holland, ich in Zürich. Ausserdem hatte er eigentlich eine Freundin in Marokko. Und so beschlossen wir nach zwei Jahren hin und her die Geschichte zu beenden und den Kontakt komplett abzubrechen. Acht Jahre hörten wir nichts mehr voneinander.
Vor zwei Jahren schrieb ich ihm dann einen Brief, wollte wissen, wie es ihm geht und was er so macht. Zu meiner Überraschung schrieb er mir sofort zurück. Er erzählte vom «friendly divorce» mit seiner Freundin aus Marokko und dass er mich gerne wieder sehen würde. Unser erstes Treffen nach acht Jahren ohne Kontakt fand dann erst einmal über Skype statt, doch wir waren so verknallt wie beim ersten Kennenlernen. Dennoch wollte ich die Sache langsam angehen, schliesslich kannte ich diesen Mann ja kaum.
In den weiteren Skype-Gesprächen entwickelten sich gewisse Erwartungen. Und als wir uns dann ein paar Monate später persönlich wieder sahen, kam es prompt zum Streit. Das hat sich dann aber bald gelegt. Wir lernten uns mehr und mehr kennen. Das geht auf Distanz halt alles ein bisschen langsamer.
Der Altersunterschied fällt heute kaum mehr ins Gewicht, die Distanz hingegen schon. Wir sehen uns zwar alle zwei Wochen, aber auf die Dauer ist das ermüdend. Für den Moment versuchen wir aus der Not eine Tugend zu machen und die Vorteile einer Fernbeziehung so gut es geht zu geniessen. Alles andere wird sich zeigen.
E. R. (*1984)
Sich dem Anderen wirklich zeigen
Mein Freund und ich haben uns vor einem Jahr auf Parship kennengelernt – er in Freiburg im Breisgau, ich in Olten. Wir sahen uns ab dem dritten Date jedes Wochenende. Am Anfang lief das auch ganz gut: Man freut sich auf den Besuch, verbringt zusammen eine schöne Zeit und verabschiedet sich dann wieder. Allerdings merkten wir schon bald, dass uns diese Form der Beziehung nicht wirklich entspricht, zumal wir auch darüber redeten, irgendwann vielleicht eine Familie gründen zu wollen. Die Initiative kam dann von ihm und sein Wunsch war klar: Ich sollte zu ihm nach Deutschland ziehen. Denn er hat dort eine eigene Firma, die er verständlicherweise nicht aufgeben möchte.
Das hat mich sehr unter Druck gesetzt, da ich beruflich zurzeit sehr eingespannt bin und die Reiserei an die Substanz geht. Und so entwickelte sich aus der anfänglich harmonischen Beziehung eine eigene Dynamik, bei der die äusseren Umstände und Frustrationen sehr viel Raum einnahmen – so sehr, dass wir seit ein paar Wochen in der Krise stecken.
Denn es ist klar: Es braucht eine klare Entscheidung und dazu bin ich noch nicht bereit. Das ist im Moment ziemlich anstrengend, aber eigentlich lernen wir uns dadurch erst jetzt richtig kennen. Wir haben nichts mehr zu verlieren und können deshalb alles auf den Tisch legen. Das führt dann soweit, dass ich ihm Dinge sagen kann, bei denen ich Angst hatte, sie könnten Distanz zwischen uns schaffen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Je offener wir uns zeigen, desto näher kommen wir uns. Und ich denke, das ist das Entscheidende. Sonst findet gar keine Beziehung statt. K.J.
Die Route neu berechnet
Ich muss mich oft verteidigen und rechtfertigen. Denn ich lebe schon sehr zurückgezogen in meinem Refugium. Meine Freunde sagen, ich würde mich in meinen Gemäuern vergraben. Dabei lebe ich so intensiv wie schon lange nicht mehr.
Nach Ende meiner Berufstätigkeit fragte ich mich: «Was will ich noch?» Da habe ich die Schweiz nach Loftwohnungen abgesucht und bin hier in Schaffhausen gelandet. Mein Basler Umfeld war fassungslos! Unterstützt haben sie mein Vorhaben nicht, eher versuchten sie Ängste zu schüren. Ich dachte bei mir aber: «Sollte es ein Fehler sein, kann ich ihn ja rückgängig machen.» Das musste ich aber nicht.
Seit vier Jahren bin ich glücklich in meinem Reich hinter den Altstadtmauern. Ich verweile unanständig oft zu Hause. Tagelang bin ich mit meinen Büchern, für die ich auch wahnsinnig viel Geld verpulvere. Literatur ist mein Ein und Alles. Ich habe so viele Bücher, dass meine Zeit nicht mehr reichen wird, sie alle zu lesen. Am liebsten verliere ich mich in der Melancholie der nordischen Romane. Für Lesungen und Theater gehe ich dann auch aus dem Haus. Ich bin nachtaktiv und stricke bis spät in die Nacht. Nicht des Strickens wegen – ich begebe mich auf innere Reisen und meditiere. Ich kann in so viele Erinnerungen eintauchen, dass ich weder Zug noch Flugzeug brauche.
Oft besuchen mich Menschen spontan in meiner Loft. Sie bringen das Leben von aussen mit und suchen mein offenes Ohr. Nach vier Stunden erschöpft sich jedoch meine Kapazität, und ich will wieder alleine sein.
Amours foux und emotionale Kurzgeschichten habe ich öfters. Ich war sogar für vier Jahre verheiratet. Aber in ständiger Nähe fühle ich mich nicht wohl. Eine Sozialphobie habe ich nicht, ich denke eher an autistische Züge. Aber mein Verhalten braucht keine Bewertung. Mein jetziges Leben fühlt sich an wie ewige Ferien. Ich stehe um neun Uhr auf, käfele, lese Zeitung und frage mich, nach was mir heute der Sinn steht. Wenn ich gegen elf Uhr richtig wach bin, geh ich duschen und ziehe mich an. Ich tauche in die Musse ein und folge meinem eigenen Rhythmus.
D.H.S. (*1947).
Die Nähe der digitalen Fernfreundin
Seit einem halben Jahr pflege ich Fernsex mit einer Frau, die 600 Kilometer von mir entfernt wohnt. Wir haben uns noch nie gehört, noch nie gesehen – auch nicht auf Fotos –, und doch haben wir das Gefühl, uns seit je her zu kennen. Eine Art Seelenverwandtschaft. Wir lesen uns in Mails, anfangs alle paar Tage, mittlerweile drei bis vier Mal im Monat. Jedenfalls genügend, um innert vier Monaten 140 Seiten zu füllen. Der Kontakt ist herrlich und ich spüre seit langem wieder einmal die pulsierende Energie meiner Sexualität. Zwar bin ich ihr unendlich fern und doch fühle ich mich ihr sehr nahe. Und das Schönste dabei: Es ist absolut gefahrlos und sogar bereichernd.
Die Beziehung aus dem Internet hat auch die zu meiner langjährigen Lebenspartnerin inspiriert. Ich spüre eine Öffnung ihr gegenüber und das tut gut. Denn wir wohnen zwar seit zwanzig Jahren zusammen, doch es gibt Bereiche, die nicht abgedeckt sind. Sexuell läuft seit Jahren nichts mehr und was soll ich da insistieren. Schliesslich ist guter Sex wie eine Diskussion: Entweder haben beide Freude oder man lässt es bleiben. Ich lebe diesen Teil der Beziehung jedenfalls alleine und das ist auch gut so.
Meine Lebenspartnerin weiss von meiner Beziehung aus dem Internet und es stört sie nicht, schliesslich liegen hunderte von Kilometer zwischen uns. Es ist klar, dass sich meine Internet-Bekanntschaft und ich nicht sehen werden – auch wenn wir das manchmal noch so gerne täten. Wir wissen beide, dass dies sehr zerstörend sein könnte und bleiben lieber in unserer Blase. Dort stört uns niemand und wir können uns unseren Phantasien hingeben.
M.S.
Ein halbes Jahrhundert zu zweit
Wir waren 16 Jahre jung, als wir uns verliebten. Wir konnten fortan nicht ohne einander sein. Ich durfte aber nicht, also bin ich durchgebrannt. Mit 19 haben wir geheiratet. Wie siamesische Zwillinge konnten wir nichts ohne einander unternehmen. Als wir erfuhren, dass wir kinderlos bleiben würden, sagte er mir, ich könne auch einen anderen Mann suchen. Das hat mich tief berührt. Ich wollte keinen anderen als ihn.
Als ich nach 15 Jahren Ehe einen anspruchsvollen Job hatte, bei dem ich öfters auch an Samstagen weg musste, wurde unsere Beziehung auf die Probe gestellt. Mein Mann stellte sich quer. Er wollte nicht, dass ich am Wochenende nicht mit ihm war. Wie gesagt, uns gab es nur im Doppelpack. Wir haben lange geredet und uns schliesslich gefunden. Ich sagte: «Stell dir vor, du hättest eine Leidenschaft, wolltest voller Elan ein Projekt verfolgen, aber ich würde dir im Weg stehen. Wie wäre das für dich?» Das hat ihn zum Einlenken bewogen.
Seither haben wir angefangen, uns mehr Raum zu geben und ab und zu auch alleine zu sein. Wir besuchen Freunde getrennt, er fährt einmal im Jahr zur Kur, seit meiner Hüftoperation geht er auch ohne mich auf Töfftouren. Er reist gern und liebt das Entdecken. Wenn er nicht da ist, telefonieren wir täglich. Ich verreise weniger gern. Es wäre verrückt, wenn ich ihn darum davon abhalten würde.
Beruflich begleite ich Menschen in Lebenskrisen und sehe oft, dass sich Paare trennen, statt sich mehr Raum zu lassen. Viele bereuen den voreiligen Schritt später und können sich nicht wieder auf eine neue Beziehung einlassen. Bei uns ist das anders. Wir navigieren gut zwischen Nähe und Distanz. Unser Ritual? Jeden Morgen jassen wir eine halbe Stunde. Im Spiel kommen wir ins Gespräch und lösen potentielle Konflikte. Das ist mein Tipp. Viel Reden. Bei uns funktioniert das seit 53 Jahren.
T.M. (*1947)
Mehr zum Thema «nah – fern» im Zeitpunkt 144
Als ich meinen Freund zum ersten Mal sah, war er 35 und ich 19 – und beide auf Reisen in Australien. Wir haben uns sofort ineinander verknallt, der grosse Altersunterschied machte mich allerdings sehr zurückhaltend. Zurück in Europa versuchten wir die Beziehung irgendwie aufrecht zu erhalten, doch das war nicht einfach: er in Holland, ich in Zürich. Ausserdem hatte er eigentlich eine Freundin in Marokko. Und so beschlossen wir nach zwei Jahren hin und her die Geschichte zu beenden und den Kontakt komplett abzubrechen. Acht Jahre hörten wir nichts mehr voneinander.
Vor zwei Jahren schrieb ich ihm dann einen Brief, wollte wissen, wie es ihm geht und was er so macht. Zu meiner Überraschung schrieb er mir sofort zurück. Er erzählte vom «friendly divorce» mit seiner Freundin aus Marokko und dass er mich gerne wieder sehen würde. Unser erstes Treffen nach acht Jahren ohne Kontakt fand dann erst einmal über Skype statt, doch wir waren so verknallt wie beim ersten Kennenlernen. Dennoch wollte ich die Sache langsam angehen, schliesslich kannte ich diesen Mann ja kaum.
In den weiteren Skype-Gesprächen entwickelten sich gewisse Erwartungen. Und als wir uns dann ein paar Monate später persönlich wieder sahen, kam es prompt zum Streit. Das hat sich dann aber bald gelegt. Wir lernten uns mehr und mehr kennen. Das geht auf Distanz halt alles ein bisschen langsamer.
Der Altersunterschied fällt heute kaum mehr ins Gewicht, die Distanz hingegen schon. Wir sehen uns zwar alle zwei Wochen, aber auf die Dauer ist das ermüdend. Für den Moment versuchen wir aus der Not eine Tugend zu machen und die Vorteile einer Fernbeziehung so gut es geht zu geniessen. Alles andere wird sich zeigen.
E. R. (*1984)
Sich dem Anderen wirklich zeigen
Mein Freund und ich haben uns vor einem Jahr auf Parship kennengelernt – er in Freiburg im Breisgau, ich in Olten. Wir sahen uns ab dem dritten Date jedes Wochenende. Am Anfang lief das auch ganz gut: Man freut sich auf den Besuch, verbringt zusammen eine schöne Zeit und verabschiedet sich dann wieder. Allerdings merkten wir schon bald, dass uns diese Form der Beziehung nicht wirklich entspricht, zumal wir auch darüber redeten, irgendwann vielleicht eine Familie gründen zu wollen. Die Initiative kam dann von ihm und sein Wunsch war klar: Ich sollte zu ihm nach Deutschland ziehen. Denn er hat dort eine eigene Firma, die er verständlicherweise nicht aufgeben möchte.
Das hat mich sehr unter Druck gesetzt, da ich beruflich zurzeit sehr eingespannt bin und die Reiserei an die Substanz geht. Und so entwickelte sich aus der anfänglich harmonischen Beziehung eine eigene Dynamik, bei der die äusseren Umstände und Frustrationen sehr viel Raum einnahmen – so sehr, dass wir seit ein paar Wochen in der Krise stecken.
Denn es ist klar: Es braucht eine klare Entscheidung und dazu bin ich noch nicht bereit. Das ist im Moment ziemlich anstrengend, aber eigentlich lernen wir uns dadurch erst jetzt richtig kennen. Wir haben nichts mehr zu verlieren und können deshalb alles auf den Tisch legen. Das führt dann soweit, dass ich ihm Dinge sagen kann, bei denen ich Angst hatte, sie könnten Distanz zwischen uns schaffen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Je offener wir uns zeigen, desto näher kommen wir uns. Und ich denke, das ist das Entscheidende. Sonst findet gar keine Beziehung statt. K.J.
Die Route neu berechnet
Ich muss mich oft verteidigen und rechtfertigen. Denn ich lebe schon sehr zurückgezogen in meinem Refugium. Meine Freunde sagen, ich würde mich in meinen Gemäuern vergraben. Dabei lebe ich so intensiv wie schon lange nicht mehr.
Nach Ende meiner Berufstätigkeit fragte ich mich: «Was will ich noch?» Da habe ich die Schweiz nach Loftwohnungen abgesucht und bin hier in Schaffhausen gelandet. Mein Basler Umfeld war fassungslos! Unterstützt haben sie mein Vorhaben nicht, eher versuchten sie Ängste zu schüren. Ich dachte bei mir aber: «Sollte es ein Fehler sein, kann ich ihn ja rückgängig machen.» Das musste ich aber nicht.
Seit vier Jahren bin ich glücklich in meinem Reich hinter den Altstadtmauern. Ich verweile unanständig oft zu Hause. Tagelang bin ich mit meinen Büchern, für die ich auch wahnsinnig viel Geld verpulvere. Literatur ist mein Ein und Alles. Ich habe so viele Bücher, dass meine Zeit nicht mehr reichen wird, sie alle zu lesen. Am liebsten verliere ich mich in der Melancholie der nordischen Romane. Für Lesungen und Theater gehe ich dann auch aus dem Haus. Ich bin nachtaktiv und stricke bis spät in die Nacht. Nicht des Strickens wegen – ich begebe mich auf innere Reisen und meditiere. Ich kann in so viele Erinnerungen eintauchen, dass ich weder Zug noch Flugzeug brauche.
Oft besuchen mich Menschen spontan in meiner Loft. Sie bringen das Leben von aussen mit und suchen mein offenes Ohr. Nach vier Stunden erschöpft sich jedoch meine Kapazität, und ich will wieder alleine sein.
Amours foux und emotionale Kurzgeschichten habe ich öfters. Ich war sogar für vier Jahre verheiratet. Aber in ständiger Nähe fühle ich mich nicht wohl. Eine Sozialphobie habe ich nicht, ich denke eher an autistische Züge. Aber mein Verhalten braucht keine Bewertung. Mein jetziges Leben fühlt sich an wie ewige Ferien. Ich stehe um neun Uhr auf, käfele, lese Zeitung und frage mich, nach was mir heute der Sinn steht. Wenn ich gegen elf Uhr richtig wach bin, geh ich duschen und ziehe mich an. Ich tauche in die Musse ein und folge meinem eigenen Rhythmus.
D.H.S. (*1947).
Die Nähe der digitalen Fernfreundin
Seit einem halben Jahr pflege ich Fernsex mit einer Frau, die 600 Kilometer von mir entfernt wohnt. Wir haben uns noch nie gehört, noch nie gesehen – auch nicht auf Fotos –, und doch haben wir das Gefühl, uns seit je her zu kennen. Eine Art Seelenverwandtschaft. Wir lesen uns in Mails, anfangs alle paar Tage, mittlerweile drei bis vier Mal im Monat. Jedenfalls genügend, um innert vier Monaten 140 Seiten zu füllen. Der Kontakt ist herrlich und ich spüre seit langem wieder einmal die pulsierende Energie meiner Sexualität. Zwar bin ich ihr unendlich fern und doch fühle ich mich ihr sehr nahe. Und das Schönste dabei: Es ist absolut gefahrlos und sogar bereichernd.
Die Beziehung aus dem Internet hat auch die zu meiner langjährigen Lebenspartnerin inspiriert. Ich spüre eine Öffnung ihr gegenüber und das tut gut. Denn wir wohnen zwar seit zwanzig Jahren zusammen, doch es gibt Bereiche, die nicht abgedeckt sind. Sexuell läuft seit Jahren nichts mehr und was soll ich da insistieren. Schliesslich ist guter Sex wie eine Diskussion: Entweder haben beide Freude oder man lässt es bleiben. Ich lebe diesen Teil der Beziehung jedenfalls alleine und das ist auch gut so.
Meine Lebenspartnerin weiss von meiner Beziehung aus dem Internet und es stört sie nicht, schliesslich liegen hunderte von Kilometer zwischen uns. Es ist klar, dass sich meine Internet-Bekanntschaft und ich nicht sehen werden – auch wenn wir das manchmal noch so gerne täten. Wir wissen beide, dass dies sehr zerstörend sein könnte und bleiben lieber in unserer Blase. Dort stört uns niemand und wir können uns unseren Phantasien hingeben.
M.S.
Ein halbes Jahrhundert zu zweit
Wir waren 16 Jahre jung, als wir uns verliebten. Wir konnten fortan nicht ohne einander sein. Ich durfte aber nicht, also bin ich durchgebrannt. Mit 19 haben wir geheiratet. Wie siamesische Zwillinge konnten wir nichts ohne einander unternehmen. Als wir erfuhren, dass wir kinderlos bleiben würden, sagte er mir, ich könne auch einen anderen Mann suchen. Das hat mich tief berührt. Ich wollte keinen anderen als ihn.
Als ich nach 15 Jahren Ehe einen anspruchsvollen Job hatte, bei dem ich öfters auch an Samstagen weg musste, wurde unsere Beziehung auf die Probe gestellt. Mein Mann stellte sich quer. Er wollte nicht, dass ich am Wochenende nicht mit ihm war. Wie gesagt, uns gab es nur im Doppelpack. Wir haben lange geredet und uns schliesslich gefunden. Ich sagte: «Stell dir vor, du hättest eine Leidenschaft, wolltest voller Elan ein Projekt verfolgen, aber ich würde dir im Weg stehen. Wie wäre das für dich?» Das hat ihn zum Einlenken bewogen.
Seither haben wir angefangen, uns mehr Raum zu geben und ab und zu auch alleine zu sein. Wir besuchen Freunde getrennt, er fährt einmal im Jahr zur Kur, seit meiner Hüftoperation geht er auch ohne mich auf Töfftouren. Er reist gern und liebt das Entdecken. Wenn er nicht da ist, telefonieren wir täglich. Ich verreise weniger gern. Es wäre verrückt, wenn ich ihn darum davon abhalten würde.
Beruflich begleite ich Menschen in Lebenskrisen und sehe oft, dass sich Paare trennen, statt sich mehr Raum zu lassen. Viele bereuen den voreiligen Schritt später und können sich nicht wieder auf eine neue Beziehung einlassen. Bei uns ist das anders. Wir navigieren gut zwischen Nähe und Distanz. Unser Ritual? Jeden Morgen jassen wir eine halbe Stunde. Im Spiel kommen wir ins Gespräch und lösen potentielle Konflikte. Das ist mein Tipp. Viel Reden. Bei uns funktioniert das seit 53 Jahren.
T.M. (*1947)
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06. August 2016
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