Angst ist das Letzte

Ausgerechnet jetzt, wo ich endlich eine zweite Seite bekommen habe, wollen die Sätze nicht mehr flies­sen. Die Welt ist irgendwie zu verrückt geworden, um in der heute gebotenen Kürze über sie schreiben zu können; und dabei Ursache und Wirkung zu trennen. Denn wenn wir die dramatischen Ereignisse nicht verstehen, werden sie auf verborgene Weise auf uns wirken.

Nehmen wir das absurdeste Ereignis der letzten Monate, die Höllenfahrt von Nizza. Als ich davon erfuhr, begann ich sofort mit einer mehrtägigen Medienabstinenz, wie ich sie immer nach grossen Attentaten einschalte. Ich tue das meinem etwas fragilen Gemüt zuliebe. Aber auch, weil man in der ersten Zeit nach einem tragischen Grossereignis ohnehin nur Unausgegorenes, Vermutungen oder Manipulationen serviert bekommt. Nach ein paar Tagen lichten sich jeweils die Schleier und die Hintergründe werden erkennbar. Aber im Fall von Nizza war das anders – keine Antworten, nichts Zählbares. Aber Komplizen soll es gegeben haben. Die Tat war offenbar von langer Hand geplant. Nur: Wo ist der Kopf, der zu dieser langen Hand gehört? Eines ist sicher: Dieser Kopf will nach den Präsidentschaftswahlen in Frankreich vom nächsten Jahr eine Rechtsregierung. Und er wird sie vermutlich bekommen. Damit wird die Europäische Union ihrer Auflösung einen grossen Schritt näher kommen. Das kann auch einen EU-Skeptiker wie mich nicht freuen. Denn wenn die EU zerfällt anstatt sich zu reformieren, wird das Getöse gross sein. Nizza könnte also durchaus weltpolitische Bedeutung haben. So etwas kann ein tunesischer Hilfslastwagenfahrer gar nicht alleine wollen.


Die mentale Vorstellung der Tragödie am Boulevard des Anglais hat mich übrigens sehr belastet, auch nach fünf Tagen noch, als ich erstmals in der Zeitung einen Blick auf den weissen Lastwagen warf. Was für Bilder müssen da in den Köpfen von Abermillionen von Menschen in Europa herumgeistern! Was geht in unserem Unterbewusstsein ab, wenn wir einem weissen Lastwagen auf der Strasse begegnen? Und wie bringen wir diese Bilder wieder zum Verschwinden? Mit Homöopathie? Durch Verdrängen? Meine bisher schlauste Antwort: durch Vergessen. Aber dann dürfte ich die Erinnerung mit einem solchen Text nicht wieder wach rufen. Also schreibe ich ihn als Aufruf, Nizza in die Vergangenheit zu entlassen.

Es gibt schliesslich noch genug Zukunft zu bewältigen und dabei ist Angst das Letzte, was wir brauchen. Es reicht, wenn sie den Politikern im Nacken liegt, zum Beispiel dem italienischen Premier Matteo Renzi. Wenn die drittgrösste Bank seines Landes, die «Monti dei Pasci di Siena», mit 45 Milliarden fauler Kredite in den Büchern und einem Eigenkapital von minus 2,44 Prozent (!), den Stresstest nicht bestanden hätte, dann hätte nicht nur sein Stuhl gewackelt, sondern auch das Fundament aller italienischen Banken. Eine Lösung mit dem «Europäischen Stabilitätsmechanismus» ESM oder den italienischen Staat war zuvor abgelehnt worden. Deutschland beharrte auf einem Bail-in, immerhin geltendes Recht in Euroland für die Sanierung maroder Banken. Neben den Inhabern von Konten mit mehr als 100 000 Euro wären noch Zehntausende von Kleinanlegern zu Schaden gekommen. Die Proteste hätten auf der Strasse geendet und vor den Schaltern der anderen Banken. Unvorstellbar. In letzter Sekunde wurde ein privates Rettungspaket unter Beteiligung der grössten Derivatbanken der Erde geschnürt: Goldman-Sachs, Santander, Citibank, Bank of America, Merrill Lynch, Crédit Suisse und Deutsche Bank. Man kann davon ausgehen, dass sie die Monti de Pasci di Siena retten mussten, um sich selber zu schützen. Sie taten dies mit der Ankündigung, im Herbst oder auch erst nächstes Jahr eine Kapitalerhöhung durchzuführen. Zudem sollen faule Kredite im Umfang von knapp 28 Mrd. Euro zu einem Drittel ihres Werts verkauft werden. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass der Plan gelingt. Es hat in dieser Sphäre so viel Geld ohne reale Verwendung, dass man es genauso gut für einen non-valeur ausgeben kann, der in den Büchern noch nach irgendwas aussieht. Das werden sich wohl auch die gestrengen Stresstester gedacht haben, als sie den Plan sanktionierten. Nun geht es den Banken gemäss Stresstest plötzlich wieder bestens. Dabei hatte zwei Wochen zuvor der Chefökonom der morschen Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, 150 Mrd. Euro für die Erhaltung der europäischen Banken gefordert.

Den Stresstest hat auch Erdogan bestanden, obwohl es ein Ernstfall war. Seit der türkische Machthaber vor sechs Jahren eine kleine Hilfsflotte an den Gaza-Streifen schickte, die von Israel blutig geentert wurde, ist der Mann am Bosporus für den Westen kein sicherer Wert mehr. Der (später rückgängig gemachte) Kauf eines chinesischen Raketensystems, das Nuklear-Geschäft mit Russland und erst recht der Entscheid zum Bau der Gaspipeline «Turkish Stream» zur Umgehung der Ukraine dürfte den Amerikanern gar nicht gefallen haben. Der türkische Abschuss eines russischen Kampfjets im November 2015, der offenbar während ein paar Sekunden den türkischen Luftraum verletzte, muss ihnen deshalb sehr gelegen gekommen sein. Schliesslich sollen sie ihn von einem Awacs-Flugzeug auch gesteuert haben. Das sagt zumindest der deutsche Militärexperte Willy Wimmer, während 33 Jahren CDU-Bundestagsabgeordneter und Staatssekretär im Verteidigungsministerium, ein scharfer Kritiker der amerikanischen Geopolitik. Logisch: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Aber die Freude währte nur bis Ende Juni dieses Jahres, als sich Erdogan bei Putin für den Zwischenfall entschuldigte und die Beziehungen normalisierte. Den Schritt hätte er beinahe mit seinem Leben bezahlt.  

Die Drahtzieher des Putsches vom 15. und 16. Juli werden wohl noch einige Zeit im Dunklen bleiben. Ich halte die Theorie für absurd, Erdogan hätte ihn selber inszeniert, um seine Macht auszubauen. Zudem gibt es zu grosse Interessen, die strategisch wichtige Türkei  wieder sicher in den Westen zu integrieren und eine Kooperation mit Russland zu verhindern, was die USA ja auch für Deutschland beabsichtigen. Die stramm kemalistische und laizistische türkische Armee hätte der Garant dafür sein können. Die USA haben 1980 schon einmal einen erfolgreichen Militärputsch in der Türkei instrumentiert. Und mit der Bewegung des Milliardärs und ehemaligen Predigers Fethullah Gülen stand auch ein passender Partner zur Verfügung, in dessen Schulen in Kirgistan und Usbekistan schon in den 1990er Jahren mindestens 130 CIA-Agenten Unterschlupf fanden. Volksbewegungen werden von den USA immer wieder alimentiert und für ihre Zwecke eingesetzt. Aber es ist anders gekommen. Erdogan sitzt fester denn je im Sattel. Zudem bewacht er das Munitionsdepot der Migrationswaffe mit derzeit rund 2,5 Millionen Flüchtlingen. Und schon bald sitzt er auf einer fetten Gasleitung. Eigentlich könnte die EU ihren Regierungssitz an den Bosporus verlegen.

Aber vielleicht gibt es in Brüssel schon bald gar nicht mehr so viel zu regieren. Nachdem die EU seit 1980er Jahren die Demokratisierung wiederholt verpasst hat, muss sie jetzt mit den «Enkeln von Hitler, Pétain  und Mussolini» fertig werden, wie es der europhile französische Politologe Franck Bianchieri schon 1998 antizipiert hat. Und sie hat es versäumt, mit ihren Nachbarn partnerschaftliche Verhältnisse aufzubauen und stattdessen als fügsamer Vasall die destruktive Politik der USA im Nahen Osten, auf dem Balkan, in Nordafrika und in Osteuropa unterstützt. Jetzt hat man die Probleme, die offenbar nur noch die starken Männer – und Frauen – lösen können. Man darf dabei auch an die neue britische Premierministerin Theresa May denken, die bereits am Tag nach ihrer Amtseinführung erklärte, sie befürworte einen atomaren Erstschlag, auch wenn er 100 000 Opfer fordere. Wo leben wir eigentlich? In einer Welt des dauerhaften Kampfes?

Über den Brexit hatte ich mich zunächst gefreut und gehofft, er würde die EU auf den Pfad der demokratischen Tugenden führen. Aber die Freude währte nicht lange. Man könne das Volk nicht über wichtige Fragen entscheiden lassen, schrieben prominente Kommentatoren, und die EU-Granden erhöhten flugs den Druck auf die Mitgliedsländer. Auch in der Schweiz wurden Sinn und Zweck der direkten Demokratie am Beispiel der Brexit-Abstimmung in Zweifel gezogen, die ja auf einen verunglückten Schachzug von Ex-Premier Cameron zurückging, der damit die Kritiker in der eigenen Partei wieder ins Boot holen wollte. Stimmt: Auch bei uns gibt es Entscheidungen an der Urne, die man hinterher anders beurteilt. Und wir werden manchmal zu unsinnigen Fragen zur Abstimmung gerufen. Aber deswegen die direkte Demokratie in Frage zu stellen, ist infantiles anekdotisches Denken – weil ich einmal in einen sauren Apfel gebissen habe, werde ich nie mehr Äpfel essen. Direkte Demokratie bedeutet nicht, dass wir fallweise abstimmen oder eine Initiative lancieren dürfen. Direkte Demokratie ist die Grundlage eines Staates, in dem die Macht vom Volk ausgeht und in dem es auch das letzte Wort hat, selbst wenn es hie und da ein Unwort ist. Es ist ein Konzept, in dem die Regierenden und die Volksvertreter wissen, von wem sie ihre Aufträge erhalten und sich auch in den Bereichen autonomer Entscheidung entsprechend verhalten.
Natürlich ist es ungemütlich, die Bevölkerung ohne Auftrag in eine unerwünschte Richtung zu führen und dann plötzlich zu einer Abstimmung gezwungen zu werden. Der aufgestaute Ärger verhindert eine seriöse Debatte und spült Despoten an die Spitze der Unzufriedenen. Dieses Problem muss die EU nun lösen, sonst entwickelt sie sich zu einem bevormundenden Super-Staat, dem die Bürger stillschweigend die Legitimation entziehen. Das würde dann früher oder später sehr laut werden.


Mit einer solchen Aussicht darf ein Text nicht enden. Darum: Obwohl es überall schlimmer zu werden scheint, habe ich den Eindruck, dass wir die Kurve kriegen. Es gibt immer mehr Menschen, die ihrem Herzen folgen. Wir müssen nur bereit sein, dafür auch die Ärmel hochzukrempeln. Oder, um es mit einem Satz zu sagen, auf den ich letzthin gestossen bin: Schlaf hilft nicht, wenn deine Seele müde ist.
14. September 2016
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