Sex - Die wahre Geschichte
Das Buch von Christopher Ryan und Cacilda Jetha wurde schon als «Bibel der Polyamoristen» bezeichnet. Es befasst sich mit der Frage, ob Monogamie von der Natur vorgesehen ist - und ob wir als Menschen dafür gemacht sind. Es kommt zu einer Antwort - und die lautet: Nein.
Vielleicht fragt sich die geneigte Leserin, der geneigte Leser, warum der Zeitpunkt dieses Thema aufgreift. Auch darauf gibt es eine Antwort: Weil wir gängige Narrative unter die Lupe nehmen und in Frage stellen. Ein solches Narrativ ist auch die monogame Paarbeziehung. Von Bedeutung ist das insbesondere, weil sowohl die Ehe wie auch die Kleinfamilie Eckpfeiler des Patriarchats sind, in dem wir seit mehr als 5000 Jahren leben.
Die These: Monogamie ist ein gesellschaftliches Konstrukt, das sich mit Beginn der Sesshaftigkeit entwickelt hat. Es hat zu Besitzdenken, Betrug, Frustration, Unterdrückung und zahlreichen Rosenkriegen geführt, mit den entsprechenden Folgen für alle Beteiligten. Das Buch ist keine Aufforderung zu Polyamorie oder Gruppensex, sondern vielmehr eine Anregung zu einem entspannteren Umgang mit Sexualität.
Christopher Ryan und Cacilda Jetha attackieren in ihrem Buch «Sex - Die wahre Geschichte» das «Standard-Narrativ», das herrschende Paradigma der Verhaltensbiologie. Demnach suchen Frauen ressourcenreiche Männer und letztere junge attraktive Frauen. Beide Geschlechter kontrollieren sich eifersüchtig und sind darauf bedacht, dass es trotz gegenläufiger Impulse halbwegs monogam zugeht.
Die Frage lautet: Entspricht uns die Monogamie überhaupt?
«Jede zweite Ehe zerbricht in einem Strudel aus sexueller Frustration, Langeweile, schwindender Libido, Seitensprüngen, Funktionsstörungen, Verwirrung und Scham.»
Man könnte es nicht meinen, wenn man die Tatsachen betrachtet. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung geht fremd; je nach Statistik, die man konsultiert, sind es mehr als 40 Prozent. Und weitere 20 Prozent könnten es sich vorstellen, halten sich aber zurück. Zitat aus dem Buch: «Jede zweite Ehe zerbricht in einem Strudel aus sexueller Frustration, Langeweile, schwindender Libido, Seitensprüngen, Funktionsstörungen, Verwirrung und Scham.»
«Laut der American Medical Association leiden etwa 42 Prozent der amerikanischen Frauen unter sexuellen Funktionsstörungen, während die Verkaufszahlen von Viagra Jahr um Jahr sämtliche Rekorde brechen», schreiben die Autoren. «Die weltweiten Einnahmen aus Pornografie werden auf jährlich 57 bis 100 Milliarden Dollar geschätzt. In den USA sind sie grösser als die der drei grossen Fernsehanstalten (CBS, NBC und ABC) zusammen und übersteigen auch die Lizenzeinnahmen aus Football, Baseball und Basketball. Im U.S. News and World Report heisst es: ‚Amerikaner geben mehr Geld in Stripclubs aus als insgesamt für Theater, Oper, Ballett und klassische Konzerte.‘»
Augenfällig sind auch die «Verfehlungen» zahlreicher Politiker und Kirchenmänner, die vollmundig von Familienwerten sprechen und dann bei heimlichen Stelldicheins mit Geliebten, Prostituierten und Praktikantinnen Kopf, Kragen und Karriere riskieren. Warum?
Gemäss dem Standard-Narrativ ist Monogamie naturgegeben. Gleichzeitig befinden wir uns im Krieg mit unseren erotischen Sehnsüchten. Die Autoren bestreiten nicht, dass sich das gängige Verhaltensmuster (Mädchen trifft Jungen oder umgekehrt, man checkt sich ab, er schaut nach Anzeichen für Jugend und Fruchtbarkeit, sie nach Wohlstand usw.) in vielen Teilen der modernen Welt so abspielt. Sie halten es allerdings nicht für einen Bestandteil der menschlichen Natur, sondern für eine Anpassung an gesellschaftliche Bedingungen; an eine soziale Welt, die mit der Erfindung der Landwirtschaft entstand.
Nach Meinung der Kulturkritikerin Laura Kipnis erzeugt die Tyrranei der Zweisamkeit eine zentrale Angst in der modernen Liebe, nämlich «die Erwartung, dass Romantik und erotische Anziehung in einer Partnerschaft ein Leben lang anhalten können, wo doch alles darauf hinweist, dass dies eben nicht der Fall ist».
Der Mythos der monogamen Ehe kollidiert mit unseren angeborenen Trieben, und ausgerechnet auf diesem brüchigen Fundament gründen wir unsere heiligsten Beziehungen. Familien brechen auseinander, weil einer der Partner fremd gegangen ist. Ist es wirklich eine «erwachsene» Lösung, dass jemand deswegen die Familie verlässt, dass Kinder ohne Vater oder Mutter aufwachsen und dass Alleinerziehende unter der Mehrfachbelastung zerbrechen?
Gegen das Konzept der Monogamie spricht die Art und Weise, wie wir als Menschen beschaffen sind. Nach Meinung der Autoren sind die biologischen Gegebenheiten Belege für eine prähistorische Promiskuität. Nun fragt sich natürlich, ob das heute noch gilt, oder ob wir uns als Spezies nicht weiter entwickelt haben sollten.
Es fragt sich auch, ob vielen von uns die (serielle) Monogamie als stimmig erscheint, weil wir es aufgrund der patriarchalen Prägung nicht anders kennen.
Spirituelle Lehrer wie David Deida propagieren Monogamie als eine Art «heiligen Container», als spirituellen Pfad, der uns zum Erleben wahrer Intimität führt. Will heissen: Wer mit mehreren Menschen sexuelle Beziehungen pflegt, geht in die Breite; wer sich auf eine/n Partner/in beschränkt, geht in die Tiefe.
Es fragt sich auch, ob vielen von uns die (serielle) Monogamie als stimmig erscheint, weil wir es aufgrund der patriarchalen Prägung nicht anders kennen. Sicher erscheint mir, dass die Monogamie eng mit dem Konzept der Kleinfamilie verknüpft ist, die uns überforderte, allein erziehende Elternteile (vorwiegend Mütter), entwurzelte Kinder und einsame Betagte beschert. Ich gehe einig mit dem Verhaltensforscher Frans de Waal, der über das Buch sagt: «Ob es den Leuten gefällt oder nicht: die darin aufgeworfenen Fragen müssen unbedingt debattiert werden.»
Mehr dazu
- Matrifokalität: Mütter im Zentrum, Artikel hier im Zeitpunkt vom 3. November 2019
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