Die ewigen Anarchisten von St. Imier

Der «Espace Noir», der schwarze Raum, ist seit Langem ein Treffpunkt der Anarchisten. Sich nicht alles von aussen vorschreiben lassen, sich selbst organisieren – dezentral, ohne viel Staat und Bürokratie. Im Grunde ein Anliegen fast jeden Schweizers. Nur wissen es die wenigsten.

St. Imier, Uhrenmacherstadt im Berner Jura. Es ist Sonntag, der 15. September 1872. Arbeiter aus Spanien, Italien, Frankreich und den USA treffen sich mit Vertretern der Fédération jurassienne in einem Hotel, das später «Le Central» heissen wird. Darunter sind der 28-jährige James Guillaume aus Le Locle und ein russischer Berufsrevolutionär mit Namen Michail Bakunin. Die beiden kennen sich von früher, und sie sind sich einig: Anders als dieser autoritäre Sozialist Karl Marx es will, soll sich die Arbeiterschaft frei und unabhängig organisieren dürfen. Also kein Staat und schon gar nicht eine «Diktatur des Proletariats». So in etwa steht es auch in der Resolution, die tags darauf im Kongress von St. Imier verabschiedet wird. Und die den Grundstein für die anarchistische Bewegung legen wird.

Oft wird die Rolle der Schweiz für die Anfänge des Anarchismus, wenn überhaupt, nur nebenher erwähnt. Dabei waren die AnarchistInnen auch hierzulande bis über die Jahrhundertwende hinaus aktiv. Als während des Zweiten Weltkrieges in Bundesbern ein Verbot anarchistischer Tätigkeiten erlassen wurde und kurz darauf noch Luigi Bertoni verstarb – der Tessiner war während Jahrzehnten einer der lebhaften Aktivisten im Land –, konnte sich der Anarchismus nicht mehr entfalten. Das änderte sich erst mit der 68er-Bewegung, als anarchistisches Gedankengut wie Basisdemokratie, Selbstbestimmung und Partizipation die Organisationsform der neuen sozialen Bewegungen prägte. Spätestens ab Mitte der 1970er Jahre tauchten auch in der Westschweiz wiederum anarchistische Gruppierungen auf, es wurden selbstverwaltete Projekte initiiert, Zeitschriften publiziert und Kooperativen gegründet.
So auch in St. Imier. Dort entstand 1984 auf Anregung des Architekten Maurice Born keine zweihundert Meter vom Hotel «Central» entfernt an der Rue Francillon das anarchistische Kulturzentrum «Espace Noir».


Er ist ein Dinosaurier der anarchistischen Bewegung in der Romandie, kein Zweifel. Michel Némitz, stattlich, bärtig, 58 Jahre alt, sitzt im Espace Noir und sagt: «Mit Autoritäten konnte ich es schon in der Schule nicht.»
Aufgewachsen in La Chaux-de-Fonds in einem linken Umfeld – der Vater ein Sozialist, die Mutter eine Freidenkerin, die Grosseltern Anarcho-Syndikalisten –, war er 1978 bei der Gründung der noch heute existierenden Fédération libertaires des Montagnes dabei und begann Ende der 1980er Jahre im Kollektiv des Espace Noir zu arbeiten.
Wie steht es seiner Sicht nach heute um den Anarchismus? «Es ist ein Auf und Ab, wie schon immer in der Geschichte der anarchistischen Bewegung. Der Anarchismus war ja nie eine dominierende Kraft. Aber er hatte zu allen Zeiten Gewicht. Auch jetzt, da der Kommunismus endgültig versagt hat und der Glaube an den Neoliberalismus langsam schwindet, kommt der Anarchismus wieder zum Vorschein. Das siehst du an der Umweltbewegung, der Antiglobalisierungsbewegung oder der Occupy-Bewegung. Die mögen sich vielleicht nicht ‹anarchistisch› nennen, aber sie funktionieren so: ohne feste Struktur, dezentral, skeptisch gegenüber politischen Repräsentanten, konsensorientiert.»

Böse Zungen behaupten, für viele AktivistInnen aus diesen Bewegungen sei der Anarchismus bloss ein schickes Symbol, das sie auf T-Shirts mit sich herumtragen, und der dazugehörige Lebensstil – Häuserbesetzungen, endlose Geschlechterfragen, Veganismus – eine schnelle Mode. Der Ökoanarchist Murray Bookchin nannte sie verächtlich «Lifestyle-Anarchisten». Michel Némitz hält wenig von dieser Polemik. Er – der Anarcho-Syndikalist – meint zwar ebenfalls, man müsse sich an sozialen Kämpfen beteiligen. Genauso wichtig aber sei es, die anarchistische Idee im Hier und Jetzt zu leben. Um den anderen zu zeigen, dass Anarchie kein Humbug ist, keine abstrakte Utopie. «Anarchie ist nicht eine Sache der Zukunft, sondern der Gegenwart, nicht der Forderungen, sondern des Lebens», schrieb schon der deutsche Anarchist Gustav Landauer um 1900.
Für Michel Némitz ist das Espace Noir so ein gelebtes Projekt. Ein selbstverwalteter Ort der Solidarität, an dem sich unterschiedlichste Menschen einbringen und am politischen und sozialen Leben teilhaben können. Dafür, so die Idee, soll das Kulturzentrum den Rahmen bieten: mit einem Konzertsaal und dem kleinsten Kino der Westschweiz im Untergeschoss, einem Bistro, einer Buchhandlung und einem Info-Kiosk im Hochparterre und einer Ausstellungsgalerie auf drei Etagen. Michel selbst ist Mitglied des Kollektivs. Er arbeitete zehn Jahre im Bistro, wechselte dann in die Buchhandlung, heute veranstaltet er kulturelle Anlässe, zu denen vor allem junge Leute von Genf bis Biel kommen. Die Einwohner von St. Imier finden dagegen nur selten ins Espace. Es sind noch zu viele Vorurteile in ihren Köpfen, vermutet Némitz.


Chris Zumbrunn, im Berner Oberland aufgewachsen, suchte einen «unschweizerischen Flecken» in der Schweiz, und er fand ihn: Oberhalb von St. Imier, in 1300 Meter Höhe, auf dem Mont Soleil, dem Sonnenberg. Und hier, auf dem höchsten Punkt der Montagne du Droit, hat Zumbrunn vor etwa zwei Jahren einen libertären Treffpunkt für Menschen aus aller Welt eingerichtet: «La Décentrale», eine um 1904 erbaute Jugendstil-Villa mit zehn Räumen und einem Hektar Land.

«Ich war Anarchist, da wusste ich noch nicht, dass dieses Wort überhaupt existiert», sagt der heute 48-Jährige. Wie Némitz wurde auch Zumbrunn früh politisiert. Sein Vater, ein Freisinn, lobte die Unabhängigkeit und kritisierte den Staat, das hat den jungen Chris geprägt. Schon bald schloss sich Zumbrunn der 1976 in Bern gegründeten Grünen Partei –Demokratische Alternative an, die «anarchistische Ecke der Grünen», wie er sagt. Und liess sich mit der Zeit sogar als Kandidat aufstellen, zuletzt 2014.
Heute steckt Zumbrunn seine Zeit und Energie in das Genossenschaftsprojekt «La Décentrale». Es soll ein anarchistischer Think Tank werden, ein Spielraum für alle: «Menschen von überall können hier oben an ihren Projekten und Visionen arbeiten, sei es allein oder in einer Gruppe, während einem Tag oder für Wochen und Monate.». Die einzige Bedingung: Was in der «Décentrale» gedacht und getan wird, solle den Prinzipien der Permakultur entsprechen, also der Nachhaltigkeit, Vielfalt, Integration von Altem und Neuem, Kreativität, Kleinräumigkeit. Was eigentlich ein Konzept aus der Landwirtschaft ist, wird hier weitergedacht und auf soziale Prozesse angewendet. Im Idealfall, sagt Zumbrunn, tragen die Ideen, die so entstehen, zu einem Kulturwandel bei: in Richtung einer selbstorganisierten, dezentralen Gesellschaft mit einem politischen System, «das mit der Natur des Menschen arbeitet und nicht gegen sie». Bloss, es fehlt an Leuten, die solch libertäre Projekte langfristig mittragen.

«Ist die anarchistische Idee, zumal in Zeiten wie diesen, nicht doch ein Auslaufmodell?» «Nein», sagt Chris. «Viele denken anarchistisch, nur: Sie wissen es nicht. Gerade hier in der Schweiz. Fragt man die Leute: «Wer ist der Souverän?», dann werden sie antworten: «Wir sind es doch, jeder einzelne von uns!» Dabei ist es der Kanton. In ihrem Selbstverständnis aber möchten sie eine Politik, die ganz unten ansetzt, beim einzelnen Bürger oder bei der Gemeinde. So denken auch wir AnarchistInnen. Und so denkt im Übrigen auch der durchschnittliche SVP-Wähler.»
Also jener Wähler, der auf diese bauernschlaue Propaganda anspricht, die ausgrenzen will, wo immer möglich, und dabei so viel Menschenverachtendes, Rassistisches transportiert? Zumbrunn winkt ab. Er rede ja nicht von der politischen Klasse der SVP, die sei hoffnungslos, und er sage ja auch nicht, dass die SVP eine verkappt anarchistische Partei sei – wie auch! –, sondern er meine den Wähler, die Wählerin, die einzelnen Menschen. «Wenn man ihnen wirklich zuhört, wenn man mit ihnen wirklich darüber redet, was sie bewegt, dann geht es doch um anderes. Zum Beispiel, sich nicht von aussen alles vorschreiben zu lassen, sich selber zu organisieren, ohne viel Staat und Bürokratie, dafür dezentral, kleinräumig, selbstbestimmt.»
Dass dieser angeblich typische SVP-Wähler das Etikett des Anarchisten weit von sich weisen würde – wenn es denn wirklich auf ihn zuträfe –, weiss natürlich auch Zumbrunn. Wie es, gewiss aus anderen Gründen, wohl auch viele Einwohner von St. Imier tun würden, von denen es heisst, sie hätten das Anarchische noch immer im Blut. Und wie es manch ein Anarchist tut, dem eine solche Selbstetikettierung schon als Einschränkung vorkommt.

Spielt es am Ende überhaupt eine Rolle, ob man sich als Anarchist bezeichnet? Für Michel Némitz schon: «Es ist wichtig, dass wir uns so nennen. Nur dann bleiben wir sichtbar. Und nur wenn wir sichtbar bleiben, wird es Menschen geben, die anfangen, sich mit der Tradition und Gegenwart des Anarchismus zu beschäftigen.»
Das Hotel «Central», wo im September 1872 der erste anarchistische Kongress stattfand, ist heute übrigens nicht etwa ein Museum anarchistischer Historie, sondern eine: Diskothek.





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19. März 2017
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