Ich habe sie schon von weitem gesehen. Aber aus der Distanz ist sie nur ein Berg neben anderen grossen Bergen am Horizont. Markant ist der Berg und berühmt, so berühmt wie der Mönch und die Jungfrau. Aber ich wollte sie endlich von nahem sehen. Ich kannte sie nur von Bildern, und Bilder sind nicht die Wirklichkeit. Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

Stumm vor Ehrfurcht blickte ich zu ihr hinauf. / © Nicolas Lindt

Die Bahn zur Kleinen Scheidegg war so mit Wintersportlern vollgepfercht, dass mein Blick zum Fenster hinaus zunächst nur auf Fels stiess. Dann kam der kleine Zug oben an, ich wurde hinausgeschwemmt mit der rasselnden, klappernden Masse der Skisportmenschen, schaute mich um – und stand direkt vor ihr. Sie erhob sich vor meinen staunenden Augen, sie baute sich vor mir auf, wuchs hinauf, immer weiter hinauf in das lachende himmlische Blau und überwältigte mich.

Das erste Mal in meinem Leben befand ich mich unmittelbar unter der Eigernordwand. Stumm vor Ehrfurcht blickte ihr zu ihr hinauf. Ich schaute und schaute, bis mir der Nacken weh tat. Und ich hatte mit ihr vom ersten Moment an eines gemeinsam: Der ganze Wintersportzirkus zu ihren Füssen interessierte uns nicht. Ich sah nur die Wand, diese kalte, gewaltige Mauer aus Fels und Eis, die schon zu einer Zeit existiert hat, als die Götter noch mit den Menschen spielten.

All die anderen Skitouristen, so schien mir, liessen sich von ihrem Anblick nicht stören. Sie sausten an ihr vorüber, sorglos und frech, ohne sie zu beachten, ohne ihr ein Opfer zu bringen. Das konnte ich nicht. Den ganzen Nachmittag, wo ich mich gerade befand, fesselte die Wand meinen Blick. Ich sah sie endlich in Wirklichkeit, eins zu eins, wie ich mir das schon lange einmal gewünscht hatte. Doch ihre Grösse blieb für mich etwas, das die Wirklichkeit überragt. 

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An ihrem Fuss steht eine Tafel mit einem Bild von der Wand und den Routen, die von Alpinisten begangen wurden, um den Berg zu besteigen. Ich betrachtete die Wege zum Gipfel und richtete meinen Blick dann hinauf an die Wand. Ich sah, wie schroff und unbarmherzig sie ist und versuchte mir zu vergegenwärtigen, wie ein Mensch, ein winziger, unvollkommener Mensch es schafft, diese 1800 Meter hohe, unermessliche senkrechte Fläche hinaufzuklettern, ohne auszugleiten und abzustürzen. Ich stellte mir vor, wie einsam sich der kleine Mensch fühlen muss, wenn er in der Mitte der grossen Wand hängt. Dieses Gefühl von Verlorenheit müsste doch eigentlich so extrem sein, dass man es gar nicht aushält – und lieber loslässt. Die Hände vom Fels zu lösen und sich fallen, einfach fallen zu lassen, müsste doch, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Erlösung sein?

Aber das denke ich, weil ich kein Bergsteiger bin. Auf der Tafel lese ich weiter, dass ein Oberländer, einer von hier, die Wand mitten im Winter in 2 Stunden 22 Minuten erklommen hat. Er hatte den Berg schon früher einmal in Rekordzeit bewältigt. In 2 Stunden 47 Minuten. Doch ein anderer Kletterer hatte ihn überrundet und den Gipfel in 2 Stunden 28 Minuten erreicht. Darauf unternahm der Einheimische einen neuen Rekordversuch. Und er unterbot seinen Konkurrenten um 6 Minuten.

2 Stunden 22 Minuten. Ohne Benutzung von vorhandenen Seilen und Haken. Ich blickte wieder hinauf in die Wand und hatte für eine solche Leistung nur die Erklärung, dass der Berg so grosszügig war, dem Menschenkind den Triumph zu gönnen. Er hätte den Bergsteiger abschütteln können wie ein lästiges kleines Insekt. Niemand kann einen Berg bezwingen, wenn der Berg es nicht will. Doch er liess den Menschen unversehrt wieder gehen.

Vielleicht hätte der Einheimische danach aufhören sollen, Berge in 2 Stunden 22 Minuten erobern zu wollen. Etwas beweisen musste er niemandem mehr. Er war verheiratet und hätte sich für eine Familie entscheiden können. Doch er wollte nicht Vater werden. Er wollte weiterklettern und weitersiegen. Zwei Jahre später ist er im Himalaya, im höchsten Bergmassiv der Welt, wo er einen neuen Rekordversuch plante, tödlich verunglückt.

Seither hat niemand mehr die Eigernordwand auf die gleiche Weise herausgefordert. Die Verlockung, 2 Stunden 22 Minuten zu unterbieten, ist gross. Aber noch grösser ist vielleicht der Respekt. Niemand darf diesen Berg unterschätzen. Niemand darf ihn erzürnen. Diese Wand ist dem Himmel nah. Näher als wir es sind.

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Link: Die Website des Eigernordwand-Rekordhalters Ueli Steck