Wie finden wir die Balance zwischen Streit und Sprachlosigkeit? Mirjam Rigamonti will in ihrer Kolumne eine andere Sicht auf aktuelle gesellschaftliche Probleme geben und mögliche Erklärungen jenseits politischer Verschwörungsbefürchtungen zur Diskussion stellen. Ein Austausch mit unseren Leserinnen und Lesern ist erwünscht: Sind diese Gedanken neu für Sie? Haben Sie auch entsprechende Erfahrungen gemacht?

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Vierzig Jahre lang waren sie ein Paar – jetzt stehen sie vor einem Scherbenhaufen. Was zahlreiche Hürden vorher nicht geschafft hatten, erledigten drei Jahren Corona-Zeit. Das Paar taumelte zwischen Streit und Schweigen hin und her, und jedes Bemühen um eine wiederverbindende Brücke drehte sich endlos im Kreis. Denn es galt nicht nur Meinungsverschiedenheiten zu überwinden, sondern ganze Ozeane von Weltbildern.

Letztlich geht es um unseren Umgang mit Leben und Tod – und damit zusammenhängend mit medizinischen Fragen, mit unserer Um- und Mitwelt (Konsum und Ausbeutung, Massentierhaltung) sowie mit Meinungsverschiedenheiten (Kriege, Machtgebaren). Wo früher Autoritäten wie Kirche, intellektuelle Eliten und Staatsmänner einfache Antworten geben konnten, sind diese durch unsere immer komplexer werdende Gesellschaft überfordert und werden durch ihre eigenen Schatten eingeholt (Affären, Betrug, Lügen, sexuelle Übergriffe auf Minderjährige). Demontierte Heldenbilder und fehlende Antworten verunsichern, polarisieren und machen Menschen empfänglich für schön klingende Sofort-Lösungen. Zudem hemmt Angst die klare Denkfähigkeit und macht gefügig. Dies wird von skrupellosen Gruppen für ihre eigene Interessen ausgenutzt, die nicht unbedingt dem Wohl der Allgemeinheit dienen. 

Obwohl es so erscheinen mag, sind nicht Corona und die Massnahmen schuld an der Spaltung, die durch die ganze Gesellschaft geht. Sie weisen bloss verstärkt auf Entwicklungen hin, die latent schon lange am Laufen sind.

Der Schweizer Bewusstseinsforscher Jean Gebser hat Umbruchzeiten beschrieben, in denen Gesellschaften die Art, ihre Welt zu sehen, zugunsten einer neuen Sichtweise erweitern mussten. Die gleichen Phasen, die sich die Menschheit in grösseren Zeiträumen erarbeitet hat, durchlaufen heute alle Kinder in ihrer Entwicklung vom archaischen, magischen, mythischen hin zum mentalen Bewusstsein.

Überlieferte Zeugnisse zeigen die Erschütterungen und Widerstände gegenüber solchen Umbrüchen auf. Konservative Kräfte reagierten mit Verleugnung, Diffamierung, Gefangennahme oder der Hinrichtung ihrer Freidenker. Sie versperrten sich der neuen Sichtweise so lange, bis das überalterte Weltbild zerstörerische Ausmasse annahm und schliesslich, wie aus der biologischen Evolution bekannt, durch ein entwicklungsfähigeres Bewusstsein abgelöst wurde.

Bereits um 1920 prognostizierte Gebser die defiziente Endphase des heutigen mentalen Bewusstseins mit den nun ersichtlichen Symptomen wie einer absoluten und vermeintlich einzig richtigen Schwarz-Weiss-Sichtweise, analytisches Zerlegen, suchtmässiger Drang zur Masslosigkeit, Vereinsamung in einer beziehungslos gewordenen Gesellschaft, bei der «Haben» mehr Wert hat als «Sein», wie Erich Fromm es ausdrückte. Der Bezug zum Ganzen und zur Natur ist gestört, vorher Natürliches wird bis zur Unkenntlichkeit pervertiert, indem im Kern richtige Details bis zur Karikierung überhöht werden. In seiner Unsicherheit bläht sich der Mensch durch Allmachtsfantasien auf und verliert jede Achtung vor der Schöpfung.

Als Lösung empfiehlt Gebser, dass wir den Sprung wagen ins neue «integrale» Bewusstsein, das komplexe Zusammenhänge durchschauen kann, indem es sowohl über eine analytische Tiefenschau, als auch über eine distanzierte, ganzheitlichere Aussenschau verfügt und auf jede Bewusstseinsstruktur zugreifen kann. So ist unser rationales Denken bei Analysen und Berechnungen sinnvoll, hingegen bedarf es eines kreativen, vernetzten Vorgehens, wenn es darum geht, neue Lösungen zu finden. Bei sozialen Konflikten ist ein komplexes Zusammenspiel aus Empathie, sachlichem Denken und sozialer Intelligenz gefragt.

Es liegt an uns, dieses neue Bewusstsein zu erarbeiten. Ein erster Schritt wäre, Andersdenkende nicht mehr bekämpfen oder überzeugen zu wollen, sondern zu erkennen, wo sie bewusstseinsmässig stehen und ihnen dort respektvoll zu begegnen. Statt ums Rechthaben zu ringen, könnte man mit vereinten Kräften nach Lösungen eines als gemeinsam erkannten Problems suchen.

Wenn zu viele Gemeinsamkeiten wegfallen, kann eine Trennung sinnvoll sein, um aus einer Stagnation herauszufinden. Dabei können wir lernen, uns nicht zu ärgern, Geduld zu üben, unsere Sichtweise anzubieten, aber nicht aufzudrängen, die andere Meinung respektvoll stehen zu lassen und trotzdem unseren Weg zu gehen. Erkenntnisse werden dabei als vorläufige Sichtweisen angesehen, die sich verändern können. Ganz im Sinne des Psychiaters Alfred Adler, der seine Theorien oft mit dem Satz ergänzte: «Es könnte auch ganz anders sein.»

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Zitierte Bücher

Erich Fromm: «Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft». dtv Verlag.

Jean Gebser: «Ursprung und Gegenwart», erster und zweiter Teil, Novalis Verlag.