Das Ego ist ein wichtiges Werkzeug, um uns innerhalb unserer Konturen wahrzunehmen. Doch im Gegensatz zum Ego weiss das Selbst um Verbundenheit.

Foto: Victor Prazis

«Ego» ist lateinisch und bedeutet «Ich». Erweitert durch das Suffix -ismus wird es zur Eigennützigkeit, zu Eigensucht, Ichbezogenheit, Narzissmus, Selbstbesessenheit, Egozentrik. Als egoistisch gilt der, der die Handlungsmaxime bestimmt und uneingeschränkt zum eigenen Vorteil nutzt. Er räumt sich dabei selber mehr Freiheiten ein, als er anderen zugesteht. So gilt Egoismus als Synonym für rücksichtsloses Verhalten, das Gegenteil von Altruismus und Solidarität.

Daneben gibt es die Auffassung, dass Altruismus erst durch das Erlangen des eigenen Wohls möglich ist. Als Beispiel wird die Erste Hilfe herangezogen oder ein havariertes Flugzeug, in dem wir uns zunächst die eigene Sauerstoffmaske aufsetzen müssen, bevor wir anderen helfen können. 

Auch in der christlichen Auslegung sind Selbst- und Nächstenliebe eng miteinander verbunden: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wer sich selbst keine Liebe gibt, kann sie auch niemand anderem geben. Wie könnten wir etwas verschenken, was wir nicht kennen?

So ist es nicht einfach, sich im eigenen Verhalten zurechtzufinden. Wann handeln wir aus Selbstsucht heraus, aus einer Überlegenheit über andere, und wann aus einem gesunden Selbstwertgefühl als Voraussetzung dafür, anderen zur Seite stehen zu können? Um uns nicht zwischen Egoismus und Altruismus zu verlieren, zwischen uns selbst und den anderen, müssen wir uns zunächst von den abstrahierenden Ismen befreien, dem, was unser Erleben in eine Ideologie zwängt, in bestimmte Gedanken- und Glaubenssysteme.

 

Auf grosser Reise

Ursprünglich ist Ego wertneutral. Es ist das, was uns von anderen differenziert, und damit weder gut noch schlecht. Über unser Ego erfahren wir unsere Grenzen - und damit unsere Einzigartigkeit und Besonderheit. Wie der Tropfen lösen wir uns aus dem Ozean heraus und bekommen die Möglichkeit, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wer wir sind. Wir gehen sozusagen auf Reisen und erfahren, wie es ist, Regentropfen zu sein, Schneeflocke, Eiskristall, Fluss, See, Meer. 

Doch die Reise, die wir angetreten haben, ist so lang, dass wir vergessen haben, woher wir kommen. Wir wissen nichts mehr vom Ozean des Lebens, über den wir alle miteinander verbunden sind. Wir wissen nicht mehr, dass wir gleichzeitig eins und alles sind, getrennt und gemeinsam, Tropfen und Ozean. Das Bild, das wir von uns haben, wurde im Laufe der Zeit getrübt. Es hat sich verzerrt und so sehr verdreht, dass wir uns nicht mehr erkennen können.

Die aufeinander folgenden Ismen haben uns daran gehindert, uns in der Verbundenheit des Sowohl-Als-Auch zu erfahren. Wir haben eine Welt des Entweder-Oder erschaffen, in der das ursprünglich Komplementäre sich gegenseitig ausschliesst. So bilden wir uns heute ein, dass Frieden durch Krieg herbeigeführt werden kann und Liebe mit Gewalt. Es ist so schön, wenn der Schmerz nachlässt. 

Seit Anbeginn erzieht uns unsere patriarchal ausgerichtete Zivilisation dazu, uns aneinander zu messen und gegeneinander auszuspielen. Nicht die Besonderheit jedes Einzelnen wird gefördert, sondern die Überlegenheit der Grössten, Stärksten, Skrupellosesten. So stehen wir heute an einer Weggabelung: Treiben wir es weiter auf die Spitze oder werden wir uns unserer Verbundenheit bewusst? Verlieren wir uns in unserer Rücksichtslosigkeit oder beginnen wir endlich damit, unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben? 

 

Am Scheideweg

lIm «Tarot de Marseille» bedeutet die Karte des Liebenden, sich zwischen mehreren Möglichkeiten zu entscheiden. So wie Paris in der griechischen Mythologie wird derjenige, der diese Karte zieht, mit einer grossen Sehnsucht konfrontiert, einem tiefen Begehren, einem mächtigen Wunsch. 

Die Karte des Liebenden ist eine Aufforderung, sich seiner inneren Gegensätze bewusst zu werden, um sie miteinander zu vereinigen. Ziel ist es, nicht Sklave der eigenen Wünsche und Sehnsüchte zu sein, sondern die inneren Impulse zu lenken und sich zu Nutzen zu machen. Der Liebende stürzt sich nicht hemmungslos auf das Objekt seiner Begierde, sondern nutzt die ihm gegebene Kraft, um auf eine höhere Entwicklungsstufe zu gelangen. Mutig geht er dorthin, wo noch niemand gewesen ist und entwickelt sein persönliches Glaubenssystem unabhängig von gesellschaftlichen Normen und Vorgaben. 

Der Reisende steht vor der Frage, was ihm wirklich wichtig ist. Will er weiter in einem System der Unterdrückung, der Manipulation und der Verführung steckenbleiben oder will er sich von dem befreien, was ihn klein und abhängig macht? Will er zusammenschrumpfen oder sich weiter entfalten? Will er sich immer mehr begrenzen lassen, einengen, kontrollieren, oder entscheidet er sich dafür, sein Lebensschiff als Kapitän zu besteigen? 

 

Vom Ego zum Selbst

In der indischen Tradition wird die Überwindung des Egos dargestellt als Kette abgeschlagener Dämonen – und Menschenköpfe. Die Göttin Kali trägt sie um den Hals zum Zeichen dafür, dass sie sich von ihnen befreit hat. Bei uns müssen keine Köpfe rollen. Wir müssen keine Gewalt anwenden und von unserer Zerstörungskraft Gebrauch machen. Wir können aufhören, Halt in unserem inneren Weltbild zu suchen und den Ismen, die mit ihm einhergehen, sondern, uns der Erfahrung des Augenblicks hingeben. 

Was macht diese Situation mit mir? Wie fühlt sich das Erlebte an? Nehmen wir es hin, ohne zu antizipieren, ohne zu kontrollieren, ohne zu bewerten. Es ist, was es ist. So sagt die Liebe. Wählen wir ohne Zwang, ohne Druck, ohne Schuld, ohne Scham. Entscheiden wir nicht allein aus dem Kopf heraus, sondern beziehen wir Herz und Bauch mit ein. Machen wir uns wieder ganz. Nehmen wir der ständig plappernden Stimme in unserem Kopf das Steuer aus der Hand und setzen wir das Ego auf den Hintersitz. 

Es hat seinen Platz auf dieser Reise. Das Ego ist ein wichtiges Werkzeug, um uns innerhalb unserer Konturen wahrzunehmen. Doch es ist nicht alles. Unser Ich ist nicht auf das Ego reduziert. In uns gibt es eine andere Kraft, das, was in der Psychologie als eine übergreifende Instanz in der Persönlichkeit bezeichnet wird und was uns mit unserem ursprünglichen Sein verbindet. 

Im Gegensatz zum Ego weiss das Selbst um die Verbundenheit. Es gibt etwas in uns, das nicht vergessen hat. Während das Ego blind durch die Welt läuft und alles zertrennt und in seine Bruchstücke zerteilt, hält das uns innewohnende Verbindungsbewusstsein die Welt zusammen. Wo das Ego angstgeleitet ist, ständig in Sorge, nicht genug zu bekommen und nicht genug zu sein, gibt es in uns eine Kraft des Vertrauens, der Zuversicht, der unerschütterlichen Liebe. Manche nennen sie Gott. 

 

Das Ende der Tyrannei

Auf diese Kraft gilt es, jetzt zu vertrauen. Wenn die alten Gerüste des vorherrschenden zerstörerischen Weltbildes zusammenbrechen, wenn vermeintliche Gewissheiten und Muster sich auflösen, wenn die Lügen und Verdrehungen offensichtlich werden, dann wird es für das Ego unerträglich. Das Ego hasst die Veränderung. Um jeden Preis will es, dass alles beim Alten bleibt. Entsprechend gross ist der Lärm, den es verursacht, um den Strom des lebendigen Wandels aufzuhalten. 

Das Ego ist starr und steif, es braucht Sicherheit, Berechnung, Kontrolle. Es will die Welt unter seine Herrschaft bringen. Immer neue Stratageme erfindet es, um sich das Lebendige untertan zu machen. Nichts fürchtet es mehr als das Unberechenbare. Alles versucht es, in Codes und Boxen zu zwängen. Es zettelt Kriege an, bildet Fronten, macht Angst, zersplittert und hetzt gegeneinander auf. Denn das Ego weiss nichts von seiner natürlichen Besonderheit und muss sich ständig neu beweisen in seiner Überlegenheit und vermeintlichen Stärke. 

Das Ego überwinden bedeutet, sich der Bewegung hinzugeben. Halten wir an nichts fest. Stillstand bedeutet Tod. Leben ist Entwicklung. Machen wir unsere Hände frei, um im Sturm die Balance nicht zu verlieren. Steigen wir ins Wasser, das Element der ständigen Veränderung, und geben wir uns hin. Das Wasser wird uns tragen, wenn wir uns ihm nicht widersetzen. Fühlen wir, wie wir gleichzeitig Tropfen und Ozean sind und tauchen wir ein in eine neue Welt, in der das Eine das Andere nicht ausschliesst, sondern ergänzt.