Das Transkulturelle
Das Bewusstsein muss sich wandeln! Aber auch das Sein. Die Samstags-Kolumne.
In Fragebögen trage ich mich als «konfessionslos» ein, obwohl ich sehr wohl ein Bekennender bin – confessio (lat.) heisst Bekenntnis. Ich bekenne mich zur Verbundenheit mit allem, ich bin Teil des Ganzen. Wenn schon Religion, dann sollte es eine Religion der Liebe sein. Die sich religiös nennen aber, sie bekämpfen einander. Deshalb halte ich mich da raus und bin lieber das, was sie konfessionslos nennen.
Eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung ordnete mich jedoch nach mehreren Seiten von mir ausgefüllter Fragebögen als «hochreligiös» ein. Bin ich das? Immerhin ist Transzendenz mein Lebensthema: Wie können wir über den Tellerrand und Kirchturmhorizont, über die Echokammer unseres kleinen Ich hinausschauen in die grosse, weite Welt und uns miteinander verbinden?
Transpersonale Psychologie
Als der Begriff der transpersonalen Psychologie in mein Leben trat, leuchtete etwas in mir auf: Endlich ein säkularer, wissenschaftlich fassbarer Begriff von Religiosität und Mystik! Mit ihm können wir uns der Religionen entledigen, die im besten Falle heute nur noch soziale Institutionen sind, aber keine Einsicht oder Weisheit mehr vermitteln. So weit jedenfalls mein damals leicht überspitztes Urteil.
Die transpersonale Psychologie hat in der humanistischen Psychologie der 60er Jahre in Kalifornien ihren Anfang genommen. In der akademischen Welt etablierte sie sich leider nicht (und schon gar nicht in der Politik). Die traditionelle Psychologie ist nämlich – darin ähnlich ihrer Kollegin, der Schulmedizin – immer noch antispirituell. Nicht einmal der Begriff des Placebos konnte die Tür zur Wirkung des Geistes (spirit) so richtig öffnen.
Nun habe ich folgende Idee: Die Tür zur Erfahrung des Ganzen öffnet sich in unserem von der Naturwissenschaft dominierten Zeitalter leichter durch eine komplett säkulare Religiosität. Niemand muss an etwas glauben, Erfahrung genügt. Nun geht es um die Methoden Transzendenz zu erfahren. Der Zen-Buddhismus, die Sufi-Wege und der Taoismus sind bereits gute Vorbilder für solch eine säkulare Religiosität.
Beheimatung als Gegenpol zur Transzendenz
Andererseits wird bei vielen der spirituellen Bewegungen, die Ganzheitlichkeit und Nondualität beanspruchen, der Heimataspekt missachtet. So wie wir Muttersprachen haben, in denen wir uns zuhause fühlen, so hat jede von uns auch eine weltanschauliche Heimat. Meist gründet sie sich in der familiären Herkunft. Kein Gedicht einer erlernten Sprache kann mit der Lyrik meiner Muttersprache mithalten, und doch beanspruche ich nicht, dass Deutsch die korrekte Art ist, die Welt zu beschreiben. Heimat ist das eine, Wahrheit etwas anderes. So wie wir uns örtliche und Beziehungsheimaten erlauben und zu unseren Muttersprachen immer einen besonderen Bezug haben, sollten wir auch die Weltanschauungen unserer Herkunft ehren. Sie ehren, ohne ihnen zu glauben, denn solcher Glaube würde uns einschränken und gefangen halten.
Das Weltbild meiner Herkunft ist nur eines von vielen möglichen und darf so wenig beanspruchen, Recht zu haben wie etwa die Überzeugung, dass meine Muttersprache «die richtige Sprache» ist. Gottes Sprache ist nicht Arabisch, Hebräisch, Aramäisch oder Sanskrit. Gottes Sprache ist die Stille. Und selbst das kann missverstanden werden, denn auch Musik und Lärm sind 'in Gott’, und dieses Göttliche ist nur dann eine Person, wenn ich sie als solche ansehe: Wenn ich als Persona in die Welt hineinschaue, 'erkenne ich' im Spiegel des Gegenüber viel leichter auch eine.
Wissenschaft im Kapitalismus
Unsere gerade so krisengeschüttelte Weltzivilisation braucht keine Religionen, aber Religiosität. Nur Wissenschaft, das genügt nicht. Sonst flüchtet sich die Wissenschaft in ihre eigenen Glaubensvorstellungen oder erforscht nur, was bezahlt wird. Bezahlt werden in unserem aktuellen Wirtschaftssystem vom finanziellen Volumen her mehr als hundertfach mehr Kriegsgeräte als Strategien, die zum Frieden führen. Das Ergebnis sieht man gerade wieder überdeutlich. Ebenso Pharmazeutika, mit denen sich Geld verdienen lässt, anstatt natürlicher Methoden der Heilung. Bezahlt werden auch Marketing-Methoden, die zu unnötigem Konsum und entsprechend viel Müll und Umweltgiften führen. Methoden, die zur Zufriedenheit führen, lohnen sich in unserem Wirtschaftssystem nicht.
Das Transreligiöse
Wir brauchen eine transkulturelle Religiosität, die nicht nur einigermassen unabhängig ist von Geldgebern, sondern auch von unserer jeweiligen kulturellen Herkunft und aktuellen kulturell-sozialen Beheimatung. Denn leider führt sowohl die Anhänglichkeit an die eigene Herkunft wie auch das aktuelle Gefühl einer Zugehörigkeit tendenziell zu Voreingenommenheit, Rechthaberei und Bevormundung.
Nicht religionsgebundene Meditations- und Gebetsräume ohne sakrale Figuren und heilige Gegenstände wären ein guter Anfang. Die islamischen Moscheen verzichten auf Bilder und Skulpturen, das ist schon mal ganz gut so. Aber sie haben die arabische Sprache und diese insbesondere in der Form des Koran zur Ikone erhoben, die nun angebetet wird. Sprachanbetung ist aber nicht besser als Bildanbetung (Idolatrie). Gottes Sprache ist jedoch nicht arabisch und auch Mohammed ist nicht der letzte, dem Gott eine Botschaft hinterlassen hat. Gott spricht zu uns jeden Tag: durch das Zwitschern der Vögel, die Schönheit der Natur, die Gesichter lächelnder Menschen und auch durch alles das, was wir als Lärm, Müll oder hässlich empfinden. Wir sind «in Gott» oder gar nicht. Und keiner von uns versteht das Ganze. Auch die Astrophysiker nicht, mit ihrer Theorie vom Urknall, bei dem Zeit und Raum entstanden sein sollen.
Weltkulturerbe
So wie die UNESCO bereits einiges als Weltkulturerbe deklariert hat, sollten die Heiligen Stätten aller religiösen Kulturen geachtet und geehrt werden, soweit das mit der Ethik der entstehenden Weltzivilisation vereinbar ist. Nach einer Übergangszeit sollten diese Stätten auch für Menschen ausserhalb des jeweiligen religiösen Lagers, in dem sie entstanden sind, zugänglich sein. So wird sich das Verständnis für die Schönheit und Verschiedenheit unserer kulturellen Herkünfte und Beheimatungen ausbreiten können.
Kaderschulen wie Theologische Fakultäten, Koranschulen und andere Ausbildungsstätten von Rechthabern sollten keine staatliche Unterstützung mehr bekommen und so im Lauf der Zeit auf dem Weg zu einer friedlichen Welt verschwinden. Die aktuellen Kirchenaustritte in Deutschland sehe ich als einen positiven Trend in diese Richtung. Noch in diesem Jahrhundert werden demgemäss die grossen deutschen Kirchen keine Mitglieder mehr haben oder zu sehr kleinen Sekten geschrumpft sein. Vielleicht kann das Land, das einen Martin Luther produziert hat, mit all dem folgenden Religionskriegen, nun auf diese Weise zum Vorbild für die ganze Welt werden.
Sakrale Räume
Schon jetzt hat dieser Exodus aus den Kirchen in Mitteleuropa so viele ungenutzte sakrale Räume hinterlassen! Darunter auch einige sehr schöne Gebäude, die aufgrund ihrer Architektur noch immer das Göttliche atmen. Sie könnten zu transkulturellen Meditations- und Tanzräumen werden, zu Sakralräumen der transkulturellen Begegnung jenseits all der weltanschaulichen Gräben. Vielleicht wären einige davon bei entsprechendem Umbau zur Therme auch als sakrales Bad geeignet, denn das warme Wasser der ersten neun Monate unserer individuellen Lebenszeit ist uns allen eine Heimat, die leichter in die transpersonale Erfahrung des Heiligen führt als alles andere.
Ja, das Bewusstsein muss sich wandeln! Aber auch das Sein. Wir brauchen auch transkulturelle Bildungsstätten aus Holz, Lehm und Stein, welche unsere verschiedenen Herkünfte und Beheimatungen ehren. Begegnungsstätten für die so Verschiedenen. Wir brauchen transnational wirksame Gesetze, deren Einhaltung von einer vertrauenswürdigen Exekutive garantiert wird, und das Geld darf nicht mehr prioritär in Richtung Krieg, Zwist und Kampf fliessen. Und noch einiges mehr hätte ich zur Weltkultur und -wirtschaft zu sagen, aber erstmal das: Wir brauchen eine säkulare Religiosität! Kein Lagerdenken mehr, was das Heilige, Religiöse, Göttliche und die Transzendenz anbelangt. Und als Gegenpol mehr Respekt gegenüber unseren so diversen Beheimatungen.
von:
- Anmelden oder Registieren um Kommentare verfassen zu können