Die Axpo hat sich wahrscheinlich verspekuliert
Die Gründe für den Rettungsschirm zugunsten des Stromkonzerns bleiben undurchsichtig. Es ist unmöglich, mit selber produziertem Strom an den Börsen so hohe Risiken aufzubauen, dass der Staat einschreiten muss.
Warum braucht ein angeblich solider Stromkonzern, der historisch einmalige Renditen erzielt, plötzlich Hilfe vom Staat? Um einer Antwort näher zu kommen, muss man die Energiebörsen verstehen, an denen der Strom gehandelt wird.
Während bei einem Geschäft zwischen zwei Partnern «over the counter» (OTC, über den Ladentisch) kein wirklicher Preiswettbewerb besteht, sorgt eine Börse für Transparenz und damit die Möglichkeit für Lieferanten und Kunden, das jeweils beste Geschäft abzuschliessen.
Die Börsen laden aber auch zu spekulativen Geschäften ein: jetzt einen Kontrakt zu einem späteren Liefertermin eingehen und sich kurzfristig am traditionell günstigeren Spotmarkt eindecken und einen Gewinn einfahren.
Solche Kontrakte sind handelbar – das Wesen einer Börse – und wechseln in der Regel vor der Erfüllung mehrmals die Hand. (Wie oft solche Verträge vor Ablauf weiterverkauft werden, konnte ich im Rahmen dieser kurzen Recherche für den Strommarkt nicht eruieren).
Da diese Verträge die Zukunft betreffen, müssen sie abgesichert werden. Wenn der Preis am Spotmarkt über dem vereinbarten Lieferpreis liegt, muss der Lieferant die Differenz an der Börse cash hinterlegen, damit der Kunde entschädigt werden kann, sollte der Produzent nicht liefern können.
Rechenbeispiel: Wenn der Produzent für 50 Mio. liefern muss und der aktuelle Preis für die vereinbarte Menge bei 90 liegt, muss er innert 48 Stunden der «European Energy Exchange» EEX in Leipzig 40 Mio. überweisen. Damit kann sich der Kunde mit Sicherheit zum vertraglichen Preis eindecken.
Liegt der Spotmarktpreis dagegen unter dem vereinbarten Preis, muss der Kunde die Differenz hinterlegen, damit der Produzent keinen Verlust erleidet, sollte der Kunde zum Erfüllungstermin nicht zahlen können.
Weil sich der Spotmarktpreis für Strom seit September 2021 und vor allem seit dem Ukraine-Krieg und den Sanktionen in hochvolatilen Sprüngen verzehnfacht hat, müssen die Lieferanten extrem hohe Beträge nachschiessen, was viele unter ihnen in ganz Europa in Liquiditätsschwierigkeiten getrieben hat.
Der Entscheid wird von den Medien mit einer Mischung aus Verwunderung und Sorge vermeldet. Aber kritische Fragen werden nicht gestellt, und da gibt es einige.
Hat die Axpo Strom verkauft, den sie gar nicht selber produziert, sondern sich erst auf dem markant teurer gewordenen Spotmarkt beschaffen muss? Nein, bekräftigt Alena Weibel, Head of Corporate Communications & Public Affairs. Betroffen von den nachschusspflichtigen Verträgen sei nur die eigene Stromproduktion.
Der Geschäftsbericht 2020/21 der Axpo hinterlässt jedoch ein anderes Bild. Von einem Gesamtumsatz von 6,056 Mrd. Franken entfallen nämlich zwei Drittel (4,088 Mrd., S. 14) auf «Trading&Sales» mit externen Kunden. In dieser nicht näher aufgeschlüsselten Position kann sich einiges verstecken.
Im Handel liegen die grossen Risiken, die eigene Produktion kann dagegen relativ sicher an der Börse verkauft werden. Die Axpo kann eigenen Strom mit allergrösster Sicherheit zu den vereinbarten Preisen liefern, es sei denn Elektrizitätswerke fallen aus oder sie geht konkurs.
Ein so geringes Risiko lässt sich absichern – ein typisches Bankengeschäft: Man streckt dem einen Vertragspartner eines gesicherten Geschäfts die notwendige Liquidität vor.
Warum wollten die Banken dieses Risiko nicht übernehmen? «Die Regeln zur Risikobegrenzung erlauben den Banken keine zu einseitige Exposition im Energiemarkt», erklärt Alena Weibel auf Anfrage.
Und: «Es besteht das Risiko eines Dominoeffekts im europäischen Energiemarkt, weswegen verschiedene Länder in ganz Europa Rettungsschirme für die Energiewirtschaft aktiviert haben.»
Aber warum fürchten sich die Banken überhaupt vor einem Dominoeffekt, wenn das Hauptproblem nur darin besteht, Geld für Sicherheiten bereitzustellen, das später ohnehin zurückfliesst?
Die einzig mögliche Begründung für diese Angst liegt im Pendant zu dem, was auf dem Aktienmarkt der Leerverkauf ist: Man verkauft etwas, das man nicht hat und von dem man hofft, es in der Zukunft günstiger beschaffen zu können. Und dazu gab es in den letzten Jahren reichlich Anreize.
Die Prognosen der grünen Energiewende versprachen dank hoher Subventionen günstigeren Ökostrom. Tatsächlich floss der Strom bei hoher Sonneneinstrahlung phasenweise in derartiger Menge, dass die Bezüger für die Abnahme sogar entschädigt wurden. Strom, der produziert wird, muss verwendet werden, sonst gerät das ganz System in Schieflage.
Die grüne Energiewende funktioniert allerdings nur unter der Bedingung, dass die für eine zuverlässige Versorgung notwendige Grundlast abgedeckt wird, vorzugsweise von Wasser-, Atom- und Gaskraftwerken.
In der Folge wurden Werke abgeschaltet und die Investitionen in neue Anlagen zurückgefahren, während der schwankende Ökostrom aus Wind und Sonne gefördert wurde. Die Turbulenzen am Strommarkt manifestierten sich bereits im September. Akzentuiert wurden sie durch den Ukraine-Krieg und die Sanktionen. Die akut gefährdete Deckung dieser Grundlast hat nun das Versprechen der grünen Energie erschüttert und zu den enormen Preissteigerungen geführt.
Dafür verantwortlich ist das sog. «Merit-Order-Prinzip», nach dem sich der Strompreis an der Börse bildet. Ein Beispiel zum leichteren Verständnis:
Nehmen wir an, Sie haben ein Auto ohne Pneus und fünf Lieferanten, die je einen Pneu für Fr. 50, 100, 150, 200 und 250 liefern können. Dann kostet der teuerste Pneu, den Sie brauchen, damit Sie mit dem Auto überhaupt fahren können, Fr. 200. Die billigeren Lieferanten werden in einem vollkommen transparenten Markt ihren Preis auf 200 pro Pneuerhöhen, denn das ist der Preis, den sie bezahlen müssen, damit Sie überhaupt fahren können.
Ähnlich ist es im Strommarkt: Damit das System funktioniert, entscheidet die teuerste Stromquelle, und das sind die Gaskraftwerke, deren Brennstoff im Preis enorm gestiegen ist. Die billigeren Stromquellen passen ihren Preis nach oben an und erzielen deshalb astronomische «Übergewinne», über deren steuerliche Abschöpfung jetzt in vielen Ländern eine Debatte eingesetzt hat.
Während der freie Markt in normalen Zeiten mit tendenzieller Überproduktion für optimale Preise sorgt, versagt er in Krisenzeiten bei essenziellen Gütern. Energie und Nahrung sind unverzichtbar, deshalb wird auch in einem korrumpierten Markt jeder Preis bezahlt, und die Kriegsgewinnler reiben sich die Hände.
Volkswirtschaftlich günstiger wäre ein gemittelter Preis, wobei die günstigeren Quellen die teureren subventionieren müssten, was nur durch ordnungspolitische Eingriffe und Preiskontrollen möglich ist. Damit liessen sich Übergewinne aus Mangellagen zulasten der Konsumenten verhindern. Wenn sich die Lage nicht schnell bessert, zum Beispiel durch eine Einigung mit Russland und Aufhebung der Sanktionen, droht im Winter die Einführung der Kriegswirtschaft.
Ob dieses Regime dann im Interesse der Allgemeinheit gestaltet wird, ist mehr als fraglich. Der deutsche Wirtschafts- und Klimaminister, der grüne Robert Habeck, hat es jedenfalls vorgezogen, die Autofahrer aus Steuermitteln zu subventionieren, anstatt die spekulativen Gewinne der Erdölkonzerne zu beschränken.
Zurück zur Axpo, und ihren Liquiditätsproblemen. «Bis jetzt kann die Axpo diese beispiellose Situation aus eigener Kraft meistern und hat die Kreditlinie des Bundes auch nicht in Anspruch genommen», sagt Konzernsprecherin Alena Weibel. «Wir verfügten per 5. September 2022 über eine Liquidität in der Höhe von rund 2 Milliarden Franken.»
Falls es aber noch stärkere Verwerfungen und Volatilitäten bei den Strompreisen gebe, müsste sehr kurzfristig eine Finanzierung sichergestellt werden, weshalb die Axpo «vorsorglich einen entsprechenden Antrag gestellt» habe, so Alena Weibel.
Der Bund verlangt für seine Kreditlinie, nebst anderen Auflagen wie einem Dividendenverbot, einen hohen Zins von zehn Prozent. Das deutet auf ein reales Risiko hin, das die Banken nicht oder nur zu weit schärferen Bedingungen zu tragen bereit sind.
Warum springen nicht die Eigentümer der Axpo ein, darunter so reiche Kantone wie Zürich oder der Aargau? Es fehle die Rechtsgrundlage, sagen die neun nordostschweizerischen Besitzerkantone. Sie haben die Axpo aus der Versorgungspflicht entlassen und zu einem Energiekonzern gemacht, dessen oberste Maxime der Gewinn ist. Das sorgt für Dividenden und fette Bon (mehr dazu von Lukas Hässig auf insideparadeplatz), aber es unterminiert die Versorgungssicherheit.
Aber auch der Bund hat keine Rechtsgrundlage. Er hat seine Notverordnung aufgrund einer Gesetzesrevision erlassen, die im Herbst erst noch von den Eidg. Räten verhandelt wird. Ob es nach diesem fait accompli überhaupt noch viel zu diskutieren gibt, wird sich weisen. Vermutlich werden sich die Parlamentarier einmal mehr wortreich darüber aufregen, dass sie schon wieder übergangen wurden. Aber die Notrechts-Kompetenzen überdenken, das werden sie nicht.
Der Bundesrat überträgt damit den rund 5,5 Mio. Steuerzahlern der Schweiz ein Risiko von mehr als 700 Franken pro Kopf, ohne dass das Parlament etwas dazu zu sagen hätte – seit Corona eine beliebte Regierungsmethode. Und wenn dem Steuerzahler schon ein so grosses Risiko aufgebürdet wird, dann sollte er auch am Gewinn beteiligt werden.
Die Rettung der Axpo wirft also eine Reihe von Fragen auf, die uns teuer zu stehen kommen, wenn sie nicht schnell beantwortet werden.
Entscheidend ist die Natur der Verträge, die mit den Rückstellungen gesichert werden müssen. Wenn die Lieferverträge Strom betreffen, den die Axpo zu vorhersehbaren Kosten selber produziert, dann besteht das Problem tatsächlich nur aus einem temporären Liquiditätsengpass. An der Korrektheit dieser offiziellen Version bestehen berechtigte Zweifel.
Wenn die Axpo aber Strom auf Termin verkauft hat, den sie erst noch teuer einkaufen muss, dann sieht es düster aus. Diese Frage sollte der Bundesrat in aller Klarheit beantworten und an seiner Medienkonferenz vom vergangenen Dienstag, an der die zuständige Bundesrätin die Axpo mit der Alpiq verwechselt, nicht einfach Beruhigungspillen verteilen, als ob in der Schweiz niemand etwas von der Sache verstünde und die Medien eine unangenehme Diskussion schon zu verhindern wüssten.
Wenn sich die Axpo mit mehr als einem halben Jahresumsatz verspekuliert hat, dann sind die vier Bundesmilliarden verbranntes Geld, das man sich mit einem schmerzhaften, aber vernünftigen Entscheid sparen könnte.
Regierung und Parlament sind jedoch derart vielfältig mit der Stromwirtschaft verfilzt, dass man die Wahrheit vermutlich hinausschieben wird, bis es nicht mehr anders geht – je später, desto teurer.
Gouverner c’est prévoir. Wenn das Gouvernement nicht mehr vorausschaut, dann wird es bald nicht mehr Regierung sein.
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