Die Faszination des scheinbar Alltäglichen

Wie ich den Alltag zur Kunst erhob und die Turnstunde schwänzte, um nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Aus der Serie «Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft» #34 von Nicolas Lindt.

«Mein erster Gedanke ist: Eine Mutter, die ihr Baby nicht will, hat ihn hingestellt.» / © ebay/Screenshot

Das Anziehen der Zügel im letzten Schuljahr hielt mich aber nicht davon ab, weiterhin über Musik zu schreiben und mit Elias zusammen unsere literarische Zeitschrift unter die Leute zu bringen. Und ich nahm mir sogar die Zeit, in meinen Tagebuchheften nicht nur mein persönliches Befinden in Worte zu fassen, sondern auch höhere gedankliche Dimensionen auszukundschaften. Am 31.10.1971 beispielsweise formulierte ich den Stand meiner Weltanschauung wie folgt:

«Jeder Mensch hat ein theoretisches und ein praktisches Leben. Das theoretische Leben ist sein Idealleben, das er einmal angestrebt hat, welches ihm aber durch das praktische tägliche Leben verunmöglicht wird.

Je mehr die beiden Leben miteinander übereinstimmen würden, desto eher hätte der Mensch sein Ziel erreicht. In der Kindheit gibt es diese Übereinstimmung noch – nämlich dort, wo freiheitlich erzogen wird. Die Verpflichtungen, die man als Jugendlicher erfüllen muss, drängen das Wunschleben aber zurück und fördern stattdessen das Leistungsstreben, den Zwang, die Künstlichkeit und unangenehme Verantwortung. Bis ins hohe Alter sind die Menschen unserer Zivilisation in den gesellschaftlichen Bahnen gefangen, und erst der Tod vereint das praktische mit dem theoretischen Leben, da das Sterben unabänderlich ist.

Allerdings steht sogar noch der Tod im Zeichen dieser Diskrepanz: Theoretisch will man nicht sterben – praktisch jedoch muss man gehen.»

Was ich hier theoretisch beschreibe, ist im Grunde der Schmerz des Jugendlichen, der seine Kindheit loslassen muss, um erwachsen zu werden. Und das Tor zur Erwachsenenwelt ist die Schule – die höhere Bildungsanstalt mit dem Leistungsdenken, das sie vermittelt, und mit dem Zwang, Formeln und Regeln zu lernen, die man nicht lernen will, sodass Erwachsen werden als eine Strafe erlebt wird, als Angriff auf die eigene innere Freiheit, von der man doch hoffte, sie würde durchs Älter werden erweitert.

Die Erfahrung der Schule, die ich als Gefängnis empfand, verdüsterte auch meinen Blick auf das ganze spätere Dasein. Ist es nicht traurig, dass ich als 17-Jähriger dachte: Das Leben, nach dem ich mich eigentlich sehne, kann ich erst im Tod wiederfinden.

Die Erkenntnis, ich werde erwachsen, freute mich nicht. Denn dadurch glaubte ich auch, all das zu verlieren, was zum Wesen des Kindes gehört und was sich auch ein Jugendlicher noch traut: Spontan sein zum Beispiel. Am 26.11.1971 notierte ich im Tagebuch:

«Ich fühle, wie ich mich etabliere, wie ich normal und erwachsen werde: Ein Kinderwagen steht allein am See, in der Nähe der Bushaltestelle. Ich komme zur Haltestelle, sehe den Kinderwagen da stehen, und mein erster Gedanke ist: Eine Mutter, die ihr Baby nicht will, hat es hier hingestellt und im Stich gelassen. Ich nehme mir vor, nachzusehen, ob im Kinderwagen tatsächlich, allein und verlassen ein Kind liegt, da fährt schon der Bus heran, und ich steige ein. Ich nehme mir vor, den Chauffeur zu bitten, mich noch einmal hinauszulassen, weil ich doch nachschauen muss. Ich werde es tun, denke ich – doch ich tue es nicht.

Heute stand der Kinderwagen nicht mehr dort. Aber ich warte darauf, dass in der Zeitung die Nachricht steht, eine Mutter habe ihr Kind ausgesetzt.»

Die Notiz über den verlassenen Kinderwagen reihte sich ein in eine immer genauere Beobachtung meiner Umgebung. Ich erlebte meinen Alltag immer bewusster und fand ihn auch immer beschreibenswerter. Am 27.11.1971 beispielsweise notierte ich:

«Wenn ich jemanden von meinem Schulweg heute morgen erzählen würde, käme mir sogleich diese kurze Begebenheit in den Sinn: Eine jüngere Dame steigt mit mir aus dem Tram, sie geht über die Strasse, erreicht das Coiffeurgeschäft und will siegesbewusst eintreten. Ihre ganze Haltung zeigt: Jetzt ist die Reihe an ihr, sie weiss, man wartet auf sie, man erwartet sie – doch sie stösst auf eine geschlossene Tür.»

Warum diese Faszination für die grossen und kleinen Geschichten des Alltags? Weil ich neugierig war – und es immer noch bin. Weil ich gern Menschen beobachtete. Und weil ich im Alltäglichen das Besondere aufspüren wollte.

Es gab eine weitere Inspiration: das Kunstverständnis des Andy Warhol, den ich gerade entdeckt hatte. Seine Aneinanderreihung von Colaflaschen, Waschmittelkartons oder Porträts von Marylin Monroe fand ich originell und aussagestark, weil er auf diese Weise aus meiner Sicht der amerikanischen Konsumwut einen unmissverständlichen Spiegel vorhielt.

Seine Abbildung der banalen Realität übertrug er auch auf seine Filmproduktionen. Was in mir einen Wunsch wachrief, der mich schon mehrmals gestochen hatte: Filme zu machen. Schon als ich 13 war, und ein Schulkamerad die Filmkamera seines Vaters ausleihen durfte, planten wir einen Spielfilm. Wir kamen nicht weit, weil mein Mitschüler von den Eltern ins Internat geschickt wurde. Das Medium Film liess mich dennoch nicht los – und am 30.11.1971 schrieb ich ins Tagebuch:

«Seitdem ich Andy Warhols Kunstgedanke näher gekommen bin, steht für mich fest: Noch konsequenter als er möchte ich den Alltag filmisch zur Kunst erheben. Der Zuschauer meiner Filme wird lernen, die Wirklichkeit wieder interessant zu finden. Wie in Warhols Film Empire, der das New Yorker Empire State Building während 8 Stunden in der gleichen Einstellung zeigt, möchte auch ich ein statisches Objekt stundenlang aufnehmen.

Die Zuschauer werden sich nach zehn Minuten allmählich langweilen, sie werden denken, das sehe ich jeden Tag – und sie sehen es doch nicht. Der Film zwingt sie, zu beobachten. Ich würde zum Beispiel in einer einzigen Einstellung die morgendliche Rushhour am Zürcher Bellevueplatz zeigen, das Gedränge, die Trams, Schnee, Regen, Schirme, ausdruckslose Gesichter. In einer zweiten Einstellung auf der anderen Hälfte der Leinwand das Gegenteil: Dieselbe Stelle am Bellevueplatz früh morgens um 3:00 Uhr, wenn kein Mensch unterwegs ist.

Der Zuschauer wird zuerst beide Bilder betrachten, sich dann auf eines der Bilder fixieren und plötzlich wieder zum anderen wechseln, um nichts zu verpassen. Soweit sollte man den Zuschauer bringen können: dass er etwas Alltägliches, völlig Gewöhnliches als Spielfilm mit Handlung erlebt. So kann er mit der Zeit lernen, sich wieder auf einfachste Dinge in seiner Umgebung zu konzentrieren.

Ein anderes Beispiel: die Leinwand unterteilen in vier separate Einstellungen. Jede Einstellung zeigt den Tagesablauf eines x-beliebigen Menschen. Vier verschiedene Personen auswählen, die mit ihrem Einverständnis solange und so oft gefilmt werden, bis sie ihre Künstlichkeit vor der Kamera ein wenig verlieren und das ständig auf sie gerichtete Auge nicht mehr beachten. Man wird dann im Kino zwischen den Tagesabläufen vergleichen können – es wird ein spannender Film sein.»

*

Während ich bereits konkrete Filmideen ins Auge fasste – ohne sie freilich je zu verwirklichen –, war ich in meinem Tagebuch weiterhin stark mit der Frage meiner Weltanschauung beschäftigt. Am 1.12.71 fasste ich ein Gespräch zusammen, das ich mit meinem Mitschüler Beat geführt hatte.

«Wir schwänzen eine Turnstunde und kommen in der Cafeteria neben der Schule ins Diskutieren: Beat will Theologie studieren, es passt zu ihm, er ist ein bedächtiger Mensch, der sich seine Erkenntnisse langsam erarbeitet und Fragen stellt, auf die er keine Antwort bekommt. Er ist merkwürdig, und sein In-die-Tiefe-gehen geht mir oft auf die Nerven. Doch an diesem Dezembermorgen finde ich das Diskutieren mit ihm auf einmal interessant.

Er will also Theologie studieren und die Mauer zwischen unserer Scheinwelt und der dahinter verborgenen Weisheit durchbrechen. Er freut sich darauf, Pfarrer zu werden, auch wenn es vielleicht nur eine kleine Gemeinde ist, in welcher er predigen wird. Das Individuelle ist ihm wichtig, er sagt: Christus spricht das Individuum, der Sozialismus die Masse an – ein schöner Satz, entstanden beim Schwänzen einer Turnstunde.

Ich erkläre ihm meine Haltung zur Religion. Für mich hat sie keine Bedeutung mehr, da sie die Masse nie wird erreichen können. Zuerst muss die Gesellschaft geändert werden. Erst wenn das gelungen ist – und das habe ich mir zur Aufgabe gestellt –, wird der Mensch genügend fortgeschritten sein, um den Grundfragen des Lebens entgegenzutreten. Er wird kreativ denken lernen, was dazu führen wird, dass Philosophie und Religion neue Bedeutung erhalten. Erst dann aber wird die Zeit reif sein für meinen Mitschüler. Eigentlich ist er einer der interessantesten Menschen, die ich an dieser Schule kennengelernt habe.»

Während ich mich nach der Schulzeit mit wachsendem Engagement – mehr davon später – meiner «Aufgabe» stellte, nichts weniger als die Gesellschaft zu ändern, studierte Beat tatsächlich Theologie und nahm in einer kleinen Gemeinde eine erste Pfarrstelle an. Doch nach acht Jahren als Kirchenmann wechselte er ins Bankgeschäft. 4 Jahre Wirtschaftsgymnasium waren doch nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
 

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