Ein Abstecher in den kapitalistischen Westen

April 1974: Wie ich mich in Saloniki vom bulgarischen Sozialismus erholen wollte, in der Jugendherberge auf die Szene der Backpacker stiess - und wieder zurückflüchtete. Als ich mich in die Welt verliebte. Chronik einer Leidenschaft. Folge 74.

Tramper in den 70er-Jahren auf dem Weg nach Indien (Bild Netzfund)

Das Ende der letzten Folge: «Als einsamer Grenzgänger komme ich am bulgarischen Zoll an. Ich bin der Einzige, der zu dieser Stunde noch über die Grenze will. Touristen gibt es hier nur im Sommer, und Bulgaren, wenn sie keine Fernfahrer sind, dürfen nicht nach Griechenland reisen. Der Zollbeamte kontrolliert meinen Pass – und auf einmal schaut er mich prüfend an. Dann zeigt er auf ein Datum in meinem Ausweis. Das Ablaufdatum. Der Pass sei abgelaufen, gibt er mir schroff zu verstehen. Ich dürfe aus Bulgarien zwar ausreisen – aber nicht wieder einreisen.»

«Der bulgarische Zöllner rät mir ohne jegliche Anteilnahme, den Pass in Athen oder Saloniki, beim Konsulat meines Landes, verlängern zu lassen. Schlagartig wird mir klar, in was für einer schwierigen Lage ich mich befinde.

‚Und wenn mich die Griechen nicht einreisen lassen?‘

Der Beamte zuckt nur die Achseln. Für ihn ist der Fall erledigt - ich aber stehe da, den Tränen nahe und in diesem Moment kein bisschen erwachsen. Mit schwankenden Knien gehe ich Richtung griechischer Zoll und kann dem Erlebnis Grenzübergang für einmal nichts abgewinnen: Zunächst eine Brücke, links und rechts Sumpfgebiet, ein letzter bulgarischer Posten, dann ein griechischer Grenzsoldat. Die Zöllner, die vor dem Zollhäuschen stehen, winken mich zu sich. Dass der Pass nicht mehr gültig ist, merken sie nicht. Auf das Datum achten sie gar nicht. Viel mehr interessiert sie, warum ein westlicher Mensch zu so später Stunde aus dem Kommunismus nach Griechenland einreisen will. Sie misstrauen mir, und mit Zeichensprache und ein paar englischen Brocken stellen sie Fragen. Irgendwann wird ihnen klar, dass mein rotweisser Pass ein Schweizer Pass ist. Das wirkt beruhigend. Sie händigen mir den Pass wieder aus und lassen mich ziehen. Noch immer ganz zittrig, atme ich auf. Ich bin in Griechenland.

Eine Familie in einem Mercedes mit türkischen Kennziffern nimmt mich am gleichen Abend bis Saloniki mit, nachdem ich dem Vater erklärte, dass ich sonst von der Grenze nicht mehr wegkommen würde. Es sind fröhliche, temperamentvolle Türken, Eltern mit ihrer Tochter, die sich über etwas Abwechslung freut. Ich setze mich zu ihr auf den Rücksitz, ihr Name ist Handan und wie sich herausstellt, sind wir beide im gleichen Alter. 

Wie bin ich froh um die junge Türkin! Sie ist sehr schön, und ich spüre, wie sie mich ab und zu von der Seite anschaut. Durch das Reden mit ihr vergesse ich meinen Schockmoment an der Grenze. Ich finde heraus, dass sie ein Kind der türkischen Bourgeoisie ist, in der heilen Jetset-Welt von Istanbul lebt und offenbar keine Probleme kennt. Angekommen in Saloniki, nehmen wir Abschied, dann fährt sie weiter mit ihren Eltern zur Übernachtung in einem Grandhotel – der Preis spiele keine Rolle –, während ich mir einen billigen Schlafplatz suche.» 

Handan gefiel mir, ich mochte sie sehr – doch das durfte mir nicht genügen. Ich beurteilte sie auch politisch. So verfuhr ich inzwischen mit allen Menschen, die mir begegneten. Ich abstrahierte von meinen Gefühlen für sie und versuchte, jedes Gespräch in eine weltanschauliche Richtung zu drehen. Auf diese Weise stellte ich mich als der politisch «Bewusstere» über mein Gegenüber – wie auch meine Notizen im Tagebuch zeigen. Ich beschrieb Handan darin als «Kind der türkischen Bourgeoisie», obwohl ich kein bisschen älter als sie war und im Grunde viel spannender fand, dass sie mich, wenn wir nicht redeten, verstohlen von der Seite her anschaute. Und ich dachte noch immer an sie, als ich in der Jugendherberge von Saloniki, wieder allein, in nach Geschlechtern getrennten Zimmern mein Bett bezog. 

Zwei Tage und Nächte musste ich mich in der nordgriechischen Hafenstadt aufhalten, bis ich meinen verlängerten Pass im Schweizer Konsulat abholen konnte. In einem plötzlichen Drang, als müsste ich kapitalistischen Sauerstoff tanken, war ich aus Bulgarien nach Griechenland, zurück in den Westen Europas gereist. Doch was ich in Saloniki eigentlich wollte, wusste ich nicht so recht. Durch das Warten auf meinen Pass reichte die Zeit nicht zum Weiterreisen. Deshalb blieben mir viele Stunden, um die Stadt zu erkunden, mit Gleichaltrigen ins Gespräch zu kommen und meine Eindrücke niederzuschreiben.

«Von Bulgarien in Saloniki ankommend, erkennt man, was Kapitalismus immer wieder bedeutet: ein Meer von Lichtreklamen und Werbeplakaten, ein Meer von stinkenden Autos – und dann die Menschen, die einen topmodisch teuer, die anderen ärmlich gekleidet, Mädchen, die gezwungen sind, sich zu prostituieren, alte Männer, die den ganzen Tag Lottokarten verkaufen müssen, und Kinder schließlich, die den Touristen die Schuhe putzen und betteln gehen.»

Dass mir nach der politisch verordneten Gleichschaltung in Bulgarien die westlichen Gegensätze umso schreiender in die Augen stachen, verwundert mich nicht. Ich hätte nicht hierherkommen müssen. Aber nun war ich da, und ich begreife den jungen Idealisten, der ich damals gewesen bin. Das soziale Gefälle, das ich in Saloniki antraf, konnte mir nicht gleichgültig sein. 

Gefangen in meiner Kapitalismuskritik kam ich auf ein anderes Thema erst in zweiter Linie zu sprechen. Es hätte schon im ersten Satz stehen müssen. Denn Griechenland war nicht kapitalistischer als andere westliche Staaten. Doch in der «Wiege der Demokratie» herrschte seit bereits sieben Jahren eine Militärdiktatur. 

Auf den ersten Blick war sie nicht sichtbar, auch für mich nicht. Aber ich wusste, dass «hinter dem trügerischen Schein der Neonlichter die Realität des Faschismus steht: Zur täglichen Ausbeutung der Werktätigen kommt die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die Verbreitung von Terror, das Denunziantentum, die ständige Präsenz der Armee, die Straflager auf den Inseln, die Folterungen – all das geschieht unter der Oberfläche. Und die Touristen sollen nur die Oberfläche zu sehen bekommen.»

In einem Kafenion lernte ich den Physikstudenten Georgi kennen, der mich zum Essen zu sich nach Hause einlud, wo er mir voller Stolz sein Zimmer zeigte, dessen Wände er mit den Postern des deutschen Rockmagazins «Musikexpress» vollgeklebt hatte. 

«Für Politik interessiert er sich weniger», schrieb ich im Tagebuch. «Viele Studenten, meint er, lassen die Finger von Politik, denn das sei in Griechenland eine gefährliche Sache. Es gibt zwar illegale politische Gruppen, aber Näheres weiss Georgi nicht, oder er will darüber nicht reden. Seine freie Zeit verbringt er mit seiner Freundin und seinen Kollegen, und er empört sich höchstens darüber, dass die Musik des berühmten Komponisten und Regimegegners Mikis Theodorakis verboten sei. Ihm, Georgi, bedeutet es allerdings mehr, die neue Platte von Led Zeppelin zu besitzen, darüber redet er lieber. Ob er ein typischer Saloniker Student ist oder ob andere kritischer sind, weiss ich nicht. Er ist mir sympathisch – aber sein Desinteresse enttäuscht mich.»

Viel lieber als Georgi hätte ich einen Studenten getroffen, der – wie die jungen Kämpfer der IRA – als Regimegegner im Untergrund tätig war. Der junge Grieche spürte wahrscheinlich, wie ich ihn gerne gesehen hätte. Doch er liess sich davon nicht beeindrucken.

 

*

In der Jugendherberge versuchte ich gar nicht erst, die anderen Gäste weltanschaulich bekehren zu wollen. «Es sind die üblichen Trampertypen», beschrieb ich die Gäste, die ich dort antraf. «Engländer, Amis, Kanadier, Franzosen, Deutsche – und generell wenig Mädchen. Es ist ein eigener Schlag Mensch, der in den Herbergen auf dem Weg Richtung Indien zusammenkommt. Sie befinden sich irgendwie alle auf ihrem persönlichen Trip. Man könnte sie als junge Nomaden bezeichnen. Trampen bedeutet für sie nicht, Ferien zu machen – Trampen ist ihr neuer Alltag, ihr Job sozusagen, und Ferien machen würde in ihrer Sprache dann heissen, an einem Ort vorübergehend zu bleiben und für die Weiterreise Geld zu verdienen.» 

Mit den Trampern – wörtlich den «Herumziehenden» – fühlte ich mich überhaupt nicht verbunden. Reisen war für mich schon damals kein Selbstzweck, sondern etwas Besonderes, eine Auszeit vom Alltag, von der gewohnten Umgebung. Mein Platz war zu Hause. Im vertrauten Umfeld konnte ich etwas tun, etwas bewegen, während ich in anderen Ländern Zuschauer blieb. In Bulgarien war mir das wieder bewusst geworden. 

Ebenso merkte ich einmal mehr, dass ich ohne ein festes Ziel nicht gern allein unterwegs war. Auch darin unterschied ich mich von den Trampern in der Backpackerherberge. 

«Sehr viele trampen allein – unfreiwillig die einen, weil sie keine Partnerin haben, mit Absicht die andern, weil sie offen für Neues sein wollen. Bei manchen ist das Alleinsein fast schon ihr Grundzustand. Zum Teil sind es richtige Junggesellen, die durch die Länder und Kontinente reisen. Das Bedürfnis nach dem Zusammensein mit einer Freundin wird überspielt durch die Ersatzbefriedigung des Reisens. Sobald ein Gefühl der Unzufriedenheit aufsteigt, reist man weiter. Das gibt allein schon genug zu tun: Welches Land möchte man als nächstes bereisen, welches Tagesziel setzt man sich, wie erreicht man die Ausfallstrasse, wo bekommt man zu essen? Was dann noch an freier Zeit übrig bleibt, bevor man sich schlafen legt, lässt sich bequem überbrücken mit Haschisch oder mit Alkohol.»

Meine Einblicke in die Lebenseinstellung der Tramper, die kaum älter waren als ich, liessen mich innerlich auf Distanz gehen. Ich empfand diese jungen Backpacker nicht als die Hippies von Woodstock, die von einer besseren Welt geträumt hatten. Ich nannte sie auch nicht so. Viele fand ich schon recht resigniert und verloren. Der jugendliche Idealismus, der mich überallhin begleitete, war bei ihnen nicht spürbar. Und auch ihr Verhältnis zur weiblichen Hälfte der Menschheit liess keine Spur von Romantik erkennen.

«Viele dieser Globetrotter sind schon so lange allein, dass sie Mädchen bloss noch als Sexobjekte betrachten. Der junge Jim aus dem kanadischen Quebec zum Beispiel erklärt am Abend in der Jugendherberge, er werde sich nun ins Viertel der Prostituierten begeben. Ob jemand mitkommen wolle? Oft lautet eine der ersten Fragen, die Tramper einander stellen: Wie sind die Mädchen? Sind sie leicht zu erobern?» 

Heute muss ich ein wenig darüber lächeln, dass ich Frauen in meinem Tagebuch immer als «Mädchen» bezeichne. Aber damals sprachen wir alle so. Auch die Frauen selbst redeten voneinander auf eine Weise, als wären sie noch gar nicht erwachsen. In der Formulierung «Mädchen» schwang noch etwas sehr Unemanzipiertes, Unentwickeltes mit – aber gleichzeitig auch etwas Unschuldiges. Wenn Frauen sich emanzipieren, wenn sie politisch Verantwortung übernehmen, dann werden sie «schuldig». Das waren sie vor 50 Jahren noch nicht. Sie hatten als ewige «Girls» immer noch eine Schonfrist. Und den Männern gefiel die Verniedlichung in der Wortwahl. Als vermeintliche Herren der Schöpfung fühlten sie sich den «Mädchen» klar überlegen.

 

*

Manche der jungen Männer, die ich auf das Ziel ihrer Reise ansprach, konnten mir darauf keine Antwort geben. Sie liessen sich treiben und machten die nächste Destination vom Zufall oder vom Glück abhängig, wer sie gerade mitnahm. Andere wieder hatten ihr altes Leben zu Hause gelassen. Sie brachen sämtliche Brücken ab, um irgendwo auf der Welt neu anzufangen. 

«George aus London liess sich kahlscheren, packte seinen Rucksack, nahm Abschied von seinen Eltern und reist nun durch Europa und Asien mit dem Ziel Australien, wo er leben und arbeiten will. Gleich mehrere Gäste in der Jugendherberge zog es in Richtung Afghanistan oder Indien, wo sie sich ein möglichst angenehmes, mystisch orientiertes Leben erhofften. Von enttäuschten Rückkehrern lassen sie sich nicht abhalten.» 

«Pieter aus Holland lebte monatelang in Delhi und Kabul. Was weiss er von dort zu erzählen? Er schwärmt vom billigen Leben in diesen Ländern, vom billigen Haschisch, das an jeder Strassenecke erhältlich sei, und von den billigsten Tramperhotels, die er gefunden hat. Auch die Jugendherberge von Saloniki ist eine begehrte Absteige. Doch wenn sich Tramper in Saloniki über Saloniki austauschen, dann sprechen sie vor allem über Fragen wie diese: Wo kann man kostenlos duschen? Wie heisst das Spital, wo man gegen Geld Blut spenden kann? Wo ist das American Express Büro? Wo muss man sich vor der Polizei in Acht nehmen?» 

«Das griechische Leben, die griechischen Menschen, die immer noch verbreitete Armut, die Militärdiktatur, die Notwendigkeit des Untergrundkampfes, das alles sind Themen, mit denen sich die jungen alternativen Touristen nicht auseinandersetzen. Man bleibt – auch weil es billig ist – in der geschützten internationalen Sphäre der Jugendherberge und reist anderntags weiter.» 

Aus jedem Satz meiner Schilderung ist die Enttäuschung zu spüren, die ich gegenüber meinen Altersgenossen empfand. Sie waren jung – doch irgendwie überfordert von ihrer westlichen Freiheit. Sie wussten nichts damit anzufangen. So sehr ich den bulgarischen Sozialismus zwei Tage vorher nicht mehr ertragen hatte, so sehr zog es mich jetzt zurück in das verschlossene osteuropäische Land. In Bulgarien gab es diese Übersättigung nicht. In Bulgarien war die Jugend noch nicht so verdorben wie diese Kinder des Westens. Ich war jetzt wieder Feuer und Flamme für die antikapitalistische Botschaft des Sozialismus. Am Morgen meines dritten Tages in Griechenland reiste ich mit Autostopp zurück zum bulgarischen Grenzübergang.

Dort angekommen, sah ich erst jetzt, bei Tageslicht, wie schwer befestigt die griechische Grenze zum Ostblock war. 

«Mit amerikanischer Unterstützung», schrieb ich im Tagebuch, «hat die Armee als Schutz gegen eine mögliche militärische Intervention einen viele Kilometer breiten Abwehrgürtel errichtet. Man darf diesen mit Artillerie und Panzern durchsetzten Gürtel nur mit dem Auto durchfahren. Fotografieren ist streng verboten. Die Griechen haben eine Heidenangst vor den bösen Kommunisten.»

«Eine Schulklasse darf mit einem Bus bis zur Grenze fahren, wo den Schülern erlaubt wird, den Bus zu verlassen und mit Schaudern hinüber zu blicken. Als ich an ihnen vorbei den griechischen Zoll passiere, folgen sie mir voller Neugier und Scheu bis zum Schlagbaum. Dann gehe ich ganz allein weiter zum bulgarischen Zoll, denselben Weg wie vor zwei Tagen, nur diesmal in einer ganz anderen Stimmung. Als ich zurückblicke, sehe ich, wie mir die Kinder und der griechische Zöllner hinterher starren, bis ich den bulgarischen Schlagbaum erreiche und dem bulgarischen Grenzsoldaten meinen verlängerten Pass zeige. Dann drehe ich mich noch einmal um, blicke zurück zu den Griechen – und erhebe die Hand zur Faust. Der bulgarische Soldat, der die Szene verfolgt, zeigt ein anerkennendes Lächeln und ich lächle zurück. Zum erstenmal und voller Entschlossenheit habe ich meine Faust, das Symbol des Sozialismus, zum Abschiedsgruss ausgestreckt.»


Fortsetzung folgt am 23. Juni